Nichtstun ist hier aktiver Naturschutz

Fr, 20. Nov. 2020

In den Altholzinseln zwischen Mellingen und Birmenstorf dürfen Bäume alt werden und sterben

Es ist ein besonderes Stück Wald, dass sich links und rechts der Reuss zwischen Mellingen und Birmenstorf zeigt: Sogenannte «Altholzinseln», die bei Mellingen an ein enormes Eichenwaldreservat angrenzen.

Es geht darum, die Natur einfach machen zu lassen», beschreibt Förster Peter Schenkel das Prinzip einer Altholzinsel. Diese Waldstücke werden vom Forstbetrieb Birretholz nicht bewirtschaftet, umgefallene Bäume werden nicht wegtransportiert und es wird auch kein Holz geschlagen. Eine Altholzinsel bleibt 50 Jahre sich selbst überlassen, das ist vertraglich festgehalten. «Wir wollen, dass sich der Wald natürlich entwickelt», sagt Schenkel und zeigt auf einen am Boden liegenden moosüberwachsenen Stamm. «Wunderschön. Der liegt da sicher schon 30 Jahre.» Ein ungezügelter Anblick, der selten ist in unserer sonst so aufgeräumten Kulturlandschaft.

Ökologisch wertvoll
Dabei sind die toten Bäume in den verschiedenen Stadien ihrer Zersetzung wertvolle Lebensräume für Tiere und Pflanzen. Der Förster bricht ein Stück Rinde an einem Astloch ab, um zu demonstrieren, wo kleine Lebewesen ihre Verstecke finden. Vögel und Fledermäuse freuen sich über die hier krabbelnden Insekten. An einer anderen Stelle wachsen Pilze aus dem Stamm. Gleichzeitig düngt das vermoderte Holz den Waldboden.
Waldbesitzern entgeht allerdings Gewinn, wenn ihr Gebiet zur Altholzinsel wird. Der Kanton entschädigt sie dafür. In diesem Fall ist allerdings der Kanton selbst Besitzer des Landes, sagt Schenkel. Zwischen Mellingen und Birmenstorf wurden 1998 fünf Altholzinseln ausgeschieden, die es zusammen auf eine Fläche von 44,5 Hektaren bringen. Eine beginnt am östlichen Ufer auf Höhe der Grillstelle, die nächste am westlichen nach der Eisenbahnbrücke und reicht hier hoch bis zur Waldstrasse. Der Reussuferweg führt durch alle hindurch.
Der Förster zeigt auf eine noch stehende, abgestorbene Buche weiter oben am laubbedeckten Hang. Ganz deutlich sind mehrere Löcher im Stamm zu sehen. Es handelt sich um Höhlen des Mittelspechts, der auf der Roten Liste ist, im angrenzenden Eichenwaldreservat aber nachgewiesen wurde. Der Vogel kann wegen seines weichen Schnabels keine Löcher in gesunde Bäume hacken und benötigt stehende, tote Bäume sowie Bäume mit dicken, abgestorbenen Ästen.
Im Eichenwaldreservat bleiben alte Eichen stehen und neue werden extra gepflanzt. Auch in diesen Gebieten werden die Besitzer dafür entschädigt. Der Mittelspecht ist auf die Eichen und andere grobborkige Bäume angewiesen, weil er in ihren Rindenritzen nach Beute stochern kann. Seine Spuren zu sehen, ist ein gutes Zeichen. Dann kann man davon ausgehen, dass die Lebensraumbedingungen auch für eine Vielzahl von anderen Tier- und Pflanzenarten stimmen, welche von der Eiche abhängig sind. Zwischen 300 und 500 Tier- und Pflanzenarten sind auf sie angewiesen.
«Wer hier öfter spazieren geht, kann sehr gut beobachten, wie sich ein Wald ohne Einfluss der Menschen entwickelt», sagt Schenkel. Der Weg wird indes vom Verein Aargauer Wanderwege unterhalten. Wenn Bäume über den Weg stürzen, sägt dessen Werkleiter den Durchgang frei oder räumt sie weg, so kürzlich geschehen bei einer umgestürzten Buche gleich hinter der Eisenbahnbrücke und zwei kleineren Bäumen weiter flussabwärts. Für grössere Arbeiten muss ab und an auch das sechsköpfige Team des Forstbetriebs ausrücken. Für einen solchen Einsatz würde die Gemeinde Mellingen die Kosten tragen – was auch schon anders war: 2013 blieb der Weg Monate lang gesperrt, weil sich keiner zuständig fühlte.

Totes Holz schafft Leben
Es können kranke Bäume sein, die plötzlich den Weg versperren – zu schaffen macht dem Wald etwa die Eschenwelke – aber auch kerngesunde, die bereits vorher durch einen Sturm gelockert wurden, sagt Schenkel. Ihre Kronen reichen mitunter bis in die Reuss. Angeschwemmtes Material wird sich hier verfangen, perfekt für Kleinlebewesen oder als Schutzraum für Fische.
Beim Spaziergang auf dem Reussuferweg sind zahlreiche dieser liegengebliebenen Bäume zu sehen. Angst, erschlagen zu werden, muss man deswegen aber nicht haben, beruhigt der Förster: «Die Gefahr, einen Unfall im Strassenverkehr zu haben, ist um ein vielfaches grösser.»

Stefan Böker

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