«Angst, das Virus in meine Familie zu bringen»

Di, 22. Dez. 2020

Vier Jugendliche erzählen, wie das Coronavirus ihren Alltag verändert, was ihnen fehlt und wie sie Rücksicht nehmen

Alle vier tragen Masken, mit grosser Selbstverständlichkeit – mit Maske geht auch Guetzli backen mit den Grosseltern. Schwer fällt der Verzicht aufs Skilager, auf das Sporttraining, den Weihnachtsball oder das Unterwegs-sein mit Kollegen.

Wie geht es den Jugendlichen? Wie erleben sie die Corona-Einschränkungen? Sind sie solidarisch? Solche Fragen verlangen nach Antworten. Der «Reussbote» hat sich deshalb Anfang Dezember mit vier Oberstufenschülerinnen und -schülern im Rathaus in Mellingen getroffen. Marvin Kingsley von der Jugendarbeit Mellingen-Wohlenschwil hat dazu beigetragen, dass dieses Treffen zustande kommen konnte. Im Rathaus erzählen die Jugendlichen, warum sie sich an die Regeln halten und dass Corona längst im Dorf angekommen ist.

Würdet ihr manchmal gerne rebellieren? Fällt es schwer, die Corona-Regeln einzuhalten?
Amina El Banna: Manchmal schon. Aber dann denke ich, dass es keine gute Idee ist.

Eure Unsicherheit ist gross?
Amina: Wir müssen einfach immer überlegen, ob wir uns richtig oder falsch verhalten.

Wann würdet ihr denn rebellieren?
Amina: Zum Beispiel nach einem langen Tag in der Schule, wenn ich den ganzen Tag die Maske anhatte, langsam Kopfschmerzen kriege, mir vielleicht sogar übel ist und ich zu wenig Luft kriege. Dann würde ich gerne einen Moment lang die Maske ausziehen, kurz durchatmen.

Die Masken stören?
Chris Scheuble: Mich ärgert auch, dass wir uns nicht umarmen dürfen.

Was passiert, wenn ihr es doch tut?
Chris: Wenn uns ein Lehrer erwischt, hält er uns einen Vortrag, appelliert an unsere Verantwortung und erklärt die Hintergründe.

Aber ihr könnt verstehen, warum die Massnahmen notwendig sind?
Joel Vogler: Wir schützen uns und andere.
Mirea Bösch: Mir fiel das alles zu Beginn ziemlich schwer. Erst als ich von Menschen erfuhr, die an Covid-19 erkrankt waren, wurde mir die Notwendigkeit der Massnahmen klar. Mein Vater und mein Bruder gehören zur Risikogruppe: Vor allem um meinen Bruder mache ich mir grosse Sorgen – würde er infiziert, müsste er wohl schnell ins Spital.
Amina: Das Virus ist bei uns im Dorf angekommen. Es beschränkt sich nicht mehr auf Geschichten und Bilder im Fernsehen.

Ihr kennt Leute, die an Corona erkrankt sind?
Amina: Ich hatte Corona ...

... Du warst am Virus erkrankt? Jetzt geht es dir wieder gut?
Amina: Ja. Ich hatte eher leichte Symptome, zu Beginn starke Kopfschmerzen. Als Geschmacks- und Geruchsverlust hinzu kamen, wusste ich, ich muss mich testen lassen. Gleichzeitig wurde ein Mitschüler positiv getestet. In der Folge musste die ganze Klasse in Quarantäne. Es war ein Vorteil, dass wir bereits mit Laptops arbeiteten, Fernunterricht war problemlos möglich.

Macht ihr Euch Sorgen?
Amina: Als ich Geruch- und Geschmackssinn verlor, machte ich mir Sorgen. Ich wusste, dass ich mich testen lassen muss. Es fiel mir aber schwer, das meiner Mutter mitzuteilen. Meine Mutter war deswegen auch aufgewühlt – sie sorgte sich um ihre Arbeitsstelle. Schuld gab sie mir keine. Mirea: Ich habe manchmal Angst, dass ich das Virus in meine Familie bringen und sie infizieren könnte.

Wo stören euch die Einschränkungen besonders?
Mirea: Wir wären mit der Schule ins Skilager gegangen. Wegen Corona können wir es nicht durchführen.

Du und Amina, ihr seid beide in der dritten Bezirksklasse? Wäre das auch euer Abschlusslager gewesen?
Mirea: Nein. Das Klassenlager hatte bereits früher stattgefunden ...

... nur das Skilager fällt aus?
Amina: Auch der Weihnachtsball ist abgesagt. Das ist sehr schade, weil sich in der Schule die meisten auf den Anlass gefreut haben. Vielleicht gibt es einen Frühlingsball? Es wäre schön.

Verbringt ihr wegen Corona mehr Zeit zu Hause?
Chris: Ja. Vor allem meine Mutter ist ziemlich streng, sie hat grossen Respekt vor dem Virus. Ich bin aber kein Mensch, der gerne viel Zeit zu Hause verbringt. Lieber wäre ich mit Kollegen unterwegs, das ist jetzt kaum möglich und es stört mich.

Dürfen deine Kollegen raus?
Chris: Es kommt darauf an, nicht alle.

Wie ist es bei den anderen?
Mirea: Meine Eltern sind weniger streng, zumindest meine Mutter. Meinem Vater ist wichtig, dass ich immer die gleichen Leute treffe.

Gibt es Dinge, die euch fehlen?
Joel: Ich spiele Unihockey. Nach nur einem Match wurde im Herbst die Meisterschaft abgebrochen, es gab keine Spiele mehr gegen andere Teams. Immerhin konnten wir bis vor Kurzem noch zweimal in der Woche trainieren. Aber seit letzter Woche ist auch damit Schluss.

Das ist hart für dich?
Joel: Ja, schon.

Und die anderen?
Mirea: Ich bin in der Pfadi. Bei unseren Übungen wurden die Gruppen zusehends verkleinert. Hingegen wurden mehr Leiterinnen und Leiter benötigt, auch wir Älteren mussten einspringen.

Verantwortung ist interessant?
Mirea: Ja. Aber für die Kinder ist es weniger lustig: Ihnen fehlten in den kleineren Gruppen oft die Kollegen.

Euer Schulunterricht verläuft normal? Seid ihr froh darüber?
Amina: Mir passte Homeschooling: Nach dem Frühstück setzte ich mich an den Laptop und erledigte meine Aufträge. Ich hatte mehr Freizeit.
Chris: Während des Homeschooling im Frühling traf ich abends oft ein oder zwei Kollegen auf dem Pausenplatz in Mägenwil. Schlimm wäre gewesen, niemanden zu sehen, nicht mehr draussen sein zu dürfen. Homeschooling war okay...
Joel: Ich möchte keinen Lockdown mehr. Die Rückkehr danach in die Schule fiel mir nicht so leicht. Ich musste mich wieder an den Unterricht gewöhnen. Meine Kollegen konnte ich aber auch online treffen, über Teams. Und wenn ich draussen war, traf ich immer die gleichen Leute.

Amina und Mirea, ihr beginnt nach diesem Schuljahr die Lehre? Was werdet ihr machen?
Mirea: Tiermedizinische Praxisassistentin.

Hast du deine Lehrstelle während der Pandemie gefunden?
Mirea: Ja. Das war ziemlich schwierig. Vielen Betrieben geht es wegen Corona schlecht, es werden weniger Lehrstellen angeboten. Auch schnuppern war schwieriger. Zum Glück hatte ich schon früh damit begonnen. Ich wusste bereits Vieles, vor allem, dass Tiermedizinische Praxisassistentin der richtige Beruf für mich ist. Bei vielen Betrieben konnte man ein oder zwei Tage lang schnuppern, wenn auch eine Bewerbung in Frage kam.

Und ihr, Amina und Chris?
Amina: Ich habe eine Lehrstelle als Medizinische Praxisassistentin gefunden, aber es war schwierig. Letztlich erhielt ich sie dank Beziehungen.
Chris: Ich hatte Glück. Ich musste nur zwei Bewerbungen schreiben und konnte an beiden Orten schnuppern, einmal als Velomechaniker, einmal als Automechaniker. Gerne möchte ich noch als Kinderbetreuer schnuppern gehen. In meiner Klasse mussten manche sehr viele Anfragen machen für eine Schnupperlehre.

Trefft ihr eure Grosseltern noch?
Chris: Meine Grossmutter sehe ich nur noch morgens, manchmal bringt sie mir ein Znüni zum Bus. Vor Corona war ich auch oft bei ihr zu Hause.
Joel: Wir sehen uns auf jeden Fall seltener und umarmen uns zur Zeit auch nicht. Anfang Dezember haben meine Mutter, mein Bruder und ich mit meiner Grossmutter Guetzli gemacht. Ausser meiner Grossmuttter trugen wir alle Masken.
Mirea: Ich habe meine Grossmutter seit vier Monaten nicht mehr gesehen. Amina: Für mich hat sich wenig geändert, weil ich meine Grosseltern ohnehin selten sehe. An Weihnachten sind sie bei uns eingeladen, aber meine Mutter und meine Tante sind etwas besorgt – um den Abstand einhalten zu können, wollen wir den Tisch richtig, richtig gross machen. Meine Grosseltern können dann selber entscheiden, ob sie mit uns feiern wollen.

Heidi Hess


Sorge um die Seele

Der Dachverband Offene Kinderund Jugendarbeit Schweiz sorgt sich in der Pandemie um das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen. Er weist darauf hin, dass die bisherige Corona-Zeit gezeigt habe, dass sich Kinder und Jugendliche äusserst solidarisch verhalten. Sie verzichten auf Vieles, was in ihrem Lebensalltag und Entwicklungsstadium wichtig wäre; sie engagieren sich freiwillig in Unterstützungsangeboten für Risikogruppen in den Gemeinden. In Mellingen etwa wurde mit der Jugendarbeit Mellingen-Wohlenschwil ein Bücher- und Spieleverleih aufgezogen.
Kinder und Jugendliche brauchen laut Dachverband aber auch Orte und Fachpersonen ausserhalb von Schule und Familie, wo sie sich niederschwellig treffen können. (red.)

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