Chilbi: Zum Warten auf bessere Zeiten verdammt

Fr, 04. Dez. 2020

Die Chilbi-Bahnen und -Karussells von Ernst Rodel sind während der Corona-Zeit in der Halle der Sagi eingelagert

Es ist eine ungewohnte Situation für ihn. Ernst Rodel ist normalerweise von März bis Dezember als Schausteller mit seinen Bahnen in der ganzen Schweiz auf Achse. Corona hat dem umtriebigen Leben eine Zwangspause verordnet.

Es sieht für die Schausteller der Schweiz schlecht aus. Die zweite Welle hat sie eiskalt erwischt. Statt nach dem Lockdown langsam zur «Normalität» zurückzukehren, bleiben die Bahnen erneut eingestellt. Für viele der Familienbetriebe bedeutet das eine akute Bedrohung ihrer Existenz. Schausteller Ernst Rodel kann sich noch über Wasser halten. Er hat im Herbst 2019 den Kauf einer neuen Bahn zurückgestellt. Für ihn ist das nun ein Glücksfall. Zusätzlich ist ihm der Vermieter der Lagerhalle mit der Miete bis im Februar 2021 entgegengekommen. Für das Familieneinkommen sorgt inzwischen Ehefrau Claudia Rodel als Lehrperson alleine. Das verschafft Luft, um als Schausteller auch ohne Einnahmen über die Runden zu kommen, bis die Chilbis und Feste nach Corona wieder steigen können.

Schausteller fordern Geld vom Bund
Ernst Rodel ist in fünfter Generation Schausteller. «Ich bin gleich nach der Schule in den elterlichen Betrieb eingestiegen», sagt er. «Ich habe nichts anderes gelernt.» Schaustellen liegt ihm buchstäblich im Blut. Sobald es wieder möglich ist, will er mit seinen fünf Bahnen wieder rausfahren. Bis dann will er durchhalten. Noch kann er auf die Rücklagen, die er eigentlich in die neue Bahn investieren wollte, zurückgreifen. Er hofft aber, dass der Bund das vergessene Gewerbe der Schausteller doch noch unterstützt. Dafür ging er zusammen mit seinen Kollegen am 19. August auf dem Bundesplatz friedlich demonstrieren. Sie setzten damit ein Zeichen, um auf die prekäre Lage der Schausteller aufmerksam zu machen. Der Hilferuf wurde im Bundeshaus gehört. Gerechnet wurde von den Schaustellern mit einer Finanzspritze von 40 Prozent des Einnahmenausfalls. Wieviel fliesst, ist noch ungewiss. Inzwischen geht man von zehn Prozent aus. Für viele wird das nicht reichen. Ein Konkurs und somit ein Chilbisterben wird nicht mehr aufzuhalten sein. «Es muss nicht schnell, sondern sofort Geld fliessen», sagte der Sprecher der Schausteller, Marktfahrer und Zirkusleute, Oskar Herzig, am Dienstag in der Sendung Schweiz aktuell.

Chilbi: Ein Leben im Wohnwagen
Die meiste Zeit im Jahr ist Ernst Rodel mit seinen Bahnen unterwegs zu Festanlässen und Chilbis. Nach dem Wochenende heisst es zusammenräumen und an einen neuen Ort weiterziehen. Das von Anfang März bis Ende November. Er ist von der ersten bis zur letzten Chilbi dabei. Sein grosszügiger Wohnwagen ist während dieser Zeit sein Zuhause. Da an den Wochenenden seine Frau und auch Sohn Ernst jun. mithelfen, kann er die Kosten tief halten. Hier bewahrheitet sich: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Zwei polnische Mitarbeiter unterstützen die beiden zusätzlich. Statt Menschen, Freude, Nervenkitzel und eine Prise Adrenalin zu bescheren, sind nun die Bahnen in Mellingen stillgelegt. Am 13. März war mit der Verhängung des Lockdowns schlagartig alles vorbei. Rodel startete die Saison 2020 noch vor dem Lockdown in Biel. Die Bahnen wurden aus dem Winterschlaf geholt, die Zugfahrzeuge eingelöst, Versicherungen bezahlt. Genau 16 Tage liefen die Bahnen. Bereits nach einer Woche kam der Veranstalter bei Rodel vorbei und informierte, dass vielleicht der Betrieb noch vor der Fasnacht eingestellt werden müsse. Da die Bahnen bereits aufgestellt waren, wartete Rodel zu. Viel los war wegen der ungewissen Situation nicht. Als der Lockdown kam, packte Rodel zusammen und fuhr nach Mellingen. Die polnischen Mitarbeiter reisten umgehend in ihre Heimat weiter, da sie die Schliessung der Grenze befürchteten. Rodel sitzt nun zum ersten Mal seit er sich vor 35 Jahren mit dem Kinderkarussell des Vaters selbstständig gemacht hat, ohne Chilbibetrieb untätig zu Hause. Gesellschaft leistet ihm in dieser nicht einfachen Zeit der Familienhund Sesamo.

Vorfreude auf die Zeit nach Corona
Rodel hatte den richtigen Riecher und unterschrieb im Herbst 2019 den Vertrag für den Kauf einer neuen Bahn nicht. 700 000 Franken kostet eine mittelmässige Bahn. Auch wenn heute von den meisten Schaustellern die Bahnen geleast werden, fressen die Raten bei einem Stillstand grosse Löcher ins Budget. Je nach Grösse der Chilbi oder dem Fest, nimmt er andere Bahnen mit. Bei neuen Bahnen, wie beispielsweise «der Tower», schweben 16 Personen in der Gondel rauf und runter – bevor unverhofft der freie Fall erfolgt – ist ein Nervenkitzel, der vor allem bei jüngeren Chilbibesuchern beliebt ist. Aber auch die alten nostalgischen Bahnen wie der Skilift findet bei der Jugend Anklang. Vielen wird darauf weniger übel. Trotzdem bleibt vor allem bei vorgängiger Nascherei von Zuckerwatten oder Hotdogs das Malheur oft nicht aus. Nicht alle beseitigen ihre Hinterlassenschaft selbst. So muss Rodel den Wischmopp oft selbst zur Hand nehmen. Um dem vorzubeugen, dauern die Fahrten unter vier Minuten.

Bereits Anlässe für 2021 abgesagt
Für die Schausteller wird wohl auch im Jahr 2021 die Durststrecke anhalten. Aktuelle Grossanlässe wie die Herbstmesse in Basel mit ihrem 550-Jahr-Jubiläum wurde, wie auch andere Anlässe für 2021, abgesagt. Viele Organisatoren wollen mit der vorzeitigen Absage ihr eigenes finanzielles Risiko mindern. Das finanzielle Risiko der Schausteller steigt hingegen mit jeder Absage ins Unermessliche. «Viele Schausteller werden dies nicht überleben», sagt Rodel. Auch für Rodel heisst das, seine Bahnen werden noch weitere Monate still stehen. Trotzdem freut er sich bereits wieder auf die Zeit nach Corona, wenn er wieder mit seinen Bahnen und seinem Wohnwagen an die Chilbis fahren kann. Bis dahin heisst es für Rodel – durchhalten. Bleibt zu hoffen, dass nach der entbehrungsreichen Corona-Zeit viele Menschen an Chilbis gehen und den Schaustellern die leeren Kassen wieder füllen.

Debora Gattlen

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