Sie liest in dritter Generation Wasser und Strom ab

Di, 08. Dez. 2020

Frieda Künzli ist seit 42 Jahren als Strom- und Wasserableserin in der Gemeinde unterwegs

Es ist ihre letzte Tour. Stromund Wasserablesen hat in der Familie von Frieda Künzli Tradition. Bereits vor 100 Jahren war Grossvater Ernst Gratwohl in Sachen Strom für die elektrische Licht- und Kraftgenossenschaft in der Gemeinde unterwegs. Im Frühjahr geht Künzli in Pension.

Sie ist mit Leuchtweste, dem Ablesegerät und Handy unterwegs. Frieda Künzli liest seit 42 Jahren die Strom- und Wasserzähler in der Gemeinde ab. Mit 72 Jahren ist sie diesen Monat auf ihrer letzten offiziellen Tour durch die Gemeinde unterwegs. Sie weiss genau, wo sich die jeweiligen Wasserzähler befinden. Manche sind nicht einfach auf Augenhöhe montiert und noch nicht automatisch ablesbar. Da ist Improvisation gefragt. In der Gärtnerei Seiler im obersten Teil von Nesselnbach befindet sich der Zähler in luftigen drei Metern Höhe. «Früher bin ich jeweils am Regal zum Zähler hinaufgeklettert», sagt Künzli. Eine heikle Kletterpartie. Seit einiger Zeit stellt ihr deshalb der Besitzer für das Ablesen eine Leiter bereit.
Es gibt auch Zähler, die zwar nicht ganz so hoch, aber nicht ohne Hilfsmittel ablesbar sind. Künzli nimmt in solchen Situationen einen Taschenspiegel zu Hilfe. Aufpassen müsse sie nur bei den Zahlen neun und sechs. Ansonsten könne sie problemlos auch spiegelverkehrt ablesen.

Ablesen auf dem Boden liegend
Zähler gibt es aber nicht nur in luftiger Höhe, sondern auch im Untergrund. Sie sind in Schächten verborgen. Für diese Tour nimmt Frieda Künzli ihren Mann Armin oder früher auch ihre Kinder zu Hilfe. Mit einem Pickel müssen zuerst die schweren Dolendeckel zur Seite gehievt werden. Oft ist der Zähler aber nicht gleich unterhalb des Deckels angebracht. Eine Leiter, um runterzusteigen gibt es nicht. «Ich lege mich jeweils auf den nicht immer sauberen Boden, damit ich den Zähler ablesen kann», sagt sie.

Stromzählerablesen ohne Probleme
Insgesamt 770 Wasser- und 1500 Stromzähler liest Künzli einmal im Jahr, im Dezember, für die AEW ab. Bevor die AEW die Abrechnung von den Gemeindewerken übernahm, musste sie jeweils zweimal im Jahr, im April und September, auf die Tour gehen. Strasse um Strasse wird dann abgearbeitet. Bei Einfamilienhäusern klingelt sie und wartet auf Einlass. Ist niemand zu Hause, wirft sie eine Karte in den Briefkasten. Früher ein Geduldsspiel. Fragte sie nach, weshalb noch kein Zählerstand durchgegeben wurde, wurde sie vertröstet. Um schneller eine Antwort zu bekommen, versah sie die Karten nicht nur mit Datum, sondern auch mit einem Leuchtkleber mit ihrem Namen, Telefon- und Natel-Nummer. Und das zeigte Wirkung. «Ich bin noch nicht vom Ablesen zurück, wenn bereits per SMS oder Anruf der Zählerstand durchgegeben wird. Während ihrer ganzen Dienstzeit musste sie sich nie ausweisen und konnte ohne Probleme die Zähler ablesen. Nur als sie vor zwei Jahren durch die AEW eine Leuchtweste erhielt, hörte sie: «Oh Schreck, die Polizei steht vor der Türe.» Künzli liest aber nicht nur die Zähler ab. Stellt sie eine Unstimmigkeit fest, meldet sie das ihrem Arbeitgeber weiter. Das kam während den 42 Jahren bei zwei Parteien nicht gut an. Als sie wieder zum Ablesen vorbeikam, wurde ihr der Einlass verwehrt. Nachdem sie in Begleitung des Gemeinderats wiederkam, war das Problem gelöst. Nebst ihrer üblichen Tour für das Wasser- und Stromablesen muss sie auch unter dem Jahr bei Mieterwechseln die Zähler ablesen. Zwei Mal im Jahr sind auch die zehn Spitzenzähler dran. Solche stehen zum Beispiel bei Produktionsfirmen, die sehr viel Strom verbrauchen. Da auch die Gemeinde den Strom nach der Spitze bezahlt, wurde früher der Besitzer der Mühle dazu angehalten, nicht alle Mahlwerke gleichzeitig zu betreiben. Viermal im Jahr liest Frieda Künzli zusätzlich noch 26 Zähler von Photovoltaik-Anlagen ab.

Fortschrittliche Gemeinde
«Die Gemeinde war immer loyal, sozial und fortschrittlich», sagt Frieda Künzli. An ihrer Arbeit schätzte sie, dass ihr die Gemeinde immer freie Hand liess. So konnte sie ihre zwei Kinder, als diese noch klein waren, und später auch ihre beiden Enkel mit auf die Tour nehmen. Bereits vor ihrem Stellenantritt 1978 war sie als Jugendliche für ihren Vater als Stromableserin im Einsatz. Sie half aus, wenn der Vater, wegen den an vielen Orten offerierten Kaffees, unter Zeitdruck geriet. Grossvater Ernst Gratwohl übte das Amt als Stromableser seit 1918 im Nebenamt aus. Er war hauptberuflich Schneider für Armeemäntel und Bauer. Vater Franz Gratwohl trat in seine Fussstapfen. Später gründete er ein Kies- und Transportunternehmen. Was heute Frieda Künzli bei den meisten Zählern bequem mit Handy und Auslesegerät erledigen kann, mussten Grossvater und Vater noch manuell erledigen. Sie trugen den abgelesenen Zählerstand in ein Heft ein. Danach wurde vor Ort am Küchen- oder Stubentisch die Rechnung geschrieben und einkassiert. Seit Ende 1960 konnte per Einzahlungsschein bezahlt werden. Trotzdem gab es eine Zeitlang immer noch ältere Dorfbewohner, die lieber ihre Stromrechnung sofort bezahlten.

Münzautomaten verklemmten
Vereinzelt gibt es Strombezüger, die ihre Rechnung nicht bezahlen. 1958 kaufte die Gemeinde die ersten Münzautomaten. Werden Einfränkler eingeworfen, gibt es Licht. In der Gemeinde waren nie mehr als fünf Münzautomaten im Einsatz. Es gab Benutzer, die sich den Zähler nicht mehr entfernen liessen. Sie zahlten lieber sofort. Künzli musste auch schon am Wochenende oder am Abend ausrücken, wenn sich ein Geldstück beim Einwurf verklemmte und die Bewohner im Dunkeln sassen. Künzli lockerte dann im Licht einer Taschenlampe mit einem Schraubenzieher den Einfränkler. Vor 25 Jahren war Niederwil eine der ersten Gemeinden in der Region, die über moderne Stromund Wasserzähler verfügte. Sie wurden damals wegen des Neuzuzügerstroms angeschafft. Heute funktionieren 90 Prozent elektronisch, der Rest muss nach wie vor manuell im Lesegerät erfasst werden.

Offizielle Verabschiedung
Frieda Künzli wurde letzte Woche an der Winter-Gmeind von Gemeindeammann Wädi Koch offiziell für ihren langjährigen Dienst als Stromund Wasserableserin geehrt. Offiziell in Pension geht sie am 31. März 2021. Dann wird sie sich ihren Enkeln widmen und zusammen mit ihrem Mann Armin Künzli, ehemaliger Förster, den wohlverdienten Ruhestand geniessen. Trotzdem sagt sie: «Ich werde den Kontakt zur Dorfbevölkerung vermissen. Die Zusammenarbeit mit den Menschen war immer sehr gut.»

Debora Gattlen

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