«Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit»

Fr, 29. Jan. 2021

Interview: Was hat der Kampf ums Frauenstimmrecht mit geschlechtergerechter Sprache zu tun? Der «Reussbote» hat eine Germanistin gefragt

Wenn Ruth Wiederkehr Frauen und Männer ansprechen will, benutzt sie beide Formen – oder eine der zahlreichen weiteren Möglichkeiten, geschlechtergerecht zu formulieren. Im Interview erklärt die promovierte Germanistin und Historikerin, wie das funktioniert und warum ihr die vehemente Ablehnung mancher Menschen dagegen ein Rätsel ist.

Frau Wiederkehr, der Duden gendert seit Neuestem online. Was halten Sie davon?
Die Duden-Redaktion hat ihre Einträge dem üblichen Sprachgebrauch angepasst. «Mieter» steht für eine männliche Person, die etwas gemietet hat, «Mieterin» für eine weibliche Person, die etwas gemietet hat. So werden die Wörter gemeinhin auch verwendet.

Also eine zeitgemässe Anpassung?
Ja. Aus meiner Sicht als Germanistin ist es wichtig zu betonen, dass es einen Unterschied zwischen dem grammatischen Geschlecht (dem Genus), und dem biologischen oder sozialen Geschlecht (Sexus), gibt. Es haben ja auch alle unbiologischen Dinge einen Artikel: der Tisch, das Messer, die Tasse. Sobald es um Lebendiges geht, gibt es eben Genus und Sexus quasi in einem Wort drin: Der Journalist ist nach heutigem Sprachgebrauch ein Mann.

Man könnte «Journalist» auch als generisches Maskulinum verstehen, also die männliche Form, die Frauen mit einschliesst. Studien haben allerdings gezeigt: Wenn Menschen das generische Maskulinum lesen oder hören, denken sie in der Regel an Männer, und kaum Frauen dazu. Was leiten Sie daraus ab?
Wenn ich Frauen und Männer ansprechen will, dann verwende ich sowohl die maskuline als auch die feminine Form. Das ist nichts als freundlich und gerecht – Sprache verwenden wir, um zu kommunizieren und Menschen anzusprechen.

Lässt sich mit dem generischen Maskulinum ein Bogen zum Kampf für das Frauenstimmrecht schlagen? Denn wenn es funktionieren würde, dann wäre es nie nötig gewesen, das Frauenstimmrecht einzuführen. Im Verfassungstext war schliesslich vom «Staatsbürger» die Rede. Die Richter damals fanden aber nicht, dass damit Männer und Frauen gemeint waren. Ist geschlechtergerechte Sprache ein Schauplatz im Kampf um Gleichstellung?
Sie nennen hier ein schönes Beispiel. Wäre also das generische Maskulinum konsequent generisch verstanden worden, hätten Frauen viel früher abstimmen können. Beim Wort «Steuerzahler» hingegen waren Frauen wohl früher mitgemeint. Gleichstellung ist ein Prozess, der alle Lebensbereiche berührt – auch die Sprache. Insofern: Ja, geschlechtergerechte Sprache ist Teil des Kampfes für die Gleichstellung. Ich sehe das im Übrigen weniger als Kampf denn als Prozess, der natürlich kraftvollen Einsatz braucht.

Die Zürcher WOZ hat das Binnen-I (Einsatz von Grossbuchstaben im Wortinneren) vor bald 40 Jahren als erste Zeitung konsequent benutzt und wenn man so will: salonfähig gemacht. Dafür hagelte es aber auch harsche Kritik. Nur wenige Medien, etwa Bajour aus Basel oder das AAKU  im Aargau, verwenden heute konsequent den Genderstern. Die Redaktion der Republik setzt aufs generische Femininum. Was halten Sie für ideal?
Ideal ist nichts und unsere Grammatik hat für unsere gesellschaftlichen Ansprüche halt einfach kein genügend grosses Angebot. Sprache verändert sich ständig, die Anwenderinnen und Anwender prägen sie. Was mich erstaunt: Früher war das Binnen-I, heute ist der Genderstern Stein des Anstosses. Diese beiden Zeichen lösen in gewissen Menschen Zorn aus, dessen Heftigkeit mich erstaunt. Ich verstehe nicht, was diese starken Emotionen auslöst.

Wie haben Sie als Journalistin den Umgang mit geschlechtergerechter Sprache erlebt?
Im Journalismus steigt die Sensibilität für geschlechtergerechte Sprache allmählich. Ebenso wichtig wie eine geschlechtergerechte Sprache scheint mir jedoch, dass journalistische Texte und Beiträge keine Klischees reproduzieren: Wie oft lese ich noch heute Phrasen wie «die bildhübsche Skifahrerin» oder «der kräftige junge Mann». Ich störe mich also weniger am generischen Maskulinum als an solchen generischen Bildern. Sie sind nichts als einfältig.

Was wäre denn weniger einfältig? Zum Ausgleich auch Männer aufs Aussehen zu reduzieren?
Ja, das wäre zum Beispiel eine Möglichkeit (lacht). Aber allgemein wäre es wichtig, dass es in erster Linie um die Fähigkeiten einer Person geht, nicht ums Aussehen.

Unter anderem lehren Sie Berufsleute und Studierende, komplexe Sachverhalte verständlich auszudrücken. All diese neuen Schreibweisen – sind diese nicht das Gegenteil von einfacher Sprache? Stören diese nicht den Lesefluss?
Tatsächlich ist es so, dass ungewohnte Zeichen – dazu gehört aus meiner Sicht auch das Binnen-I – eine Dekodierung benötigen und den Lesefluss behindern. Deshalb ist gendergerechte Sprache ja so viel mehr als Gendergap und -stern. Verständlich werden Vorträge und Texte, wenn man direkt zu den Leuten spricht oder einfach schreibt, wie es ist: «Beachten Sie folgenden Hinweis» nicht «Teilnehmerinnen und Teilnehmer beachten ...» – oder «Text verfasst von Maria Heiniger und Samuel Kiefer» statt «Autorin und Autor des Textes ...».

Oder man benutzt geschlechtsneutrale Begriffe wie «Schreibende». Wobei «Radfahrende» grammatikalisch etwas anderes sind als «Radfahrer». Manche Kritiker sprechen darum von «lächerlichen Sprachgebilden» …
Bemühungen rund um geschlechtergerechte Sprachen sind leicht kritisierbar. Ich frage dann immer nach einem Gegenvorschlag. Tatsächlich ist das Partizip I nicht optimal: Als Autorin bin ich nicht ständig am Schreiben, bin also nicht zwingend Schreibende. Andernorts haben Kritiker (lassen wir’s mal beim generischen Maskulinum!) übrigens keine Mühe mit dieser Form: Was ist mit den stillenden Müttern? Die stillen ihre Babys ja nicht 24 Stunden am Tag. Viele Sprachprofis und auch der Duden haben jede Menge Alternativen zu Personenbezeichnungen bereitgestellt – ich zitiere: «ärztlicher Rat» statt «Rat des Arztes». So einfach.

Gibt es Begriffe, die Sie nicht gendern würden?
Wenn es drauf ankommt, findet man immer eine Möglichkeit, geschlechtergerecht zu formulieren.

In Talkshows und Nachrichtensendungen des deutschen Fernsehens gendern einige Sprecherinnen und Sprecher mittlerweile phonetisch. Wenn ich die weibliche und die männliche Form höre, fällt mir das kaum auf. Die Pause beim Genderstern irritiert mich dennoch. Muss ich mich da einfach dran gewöhnen oder ist das «Gendergaga»? Wie geht es Ihnen dabei?
Auch hier befinden wir uns im Wandel. Gegenwärtig wird versucht, der Vielfalt in der Welt auch in der gesprochenen Sprache gerecht zu werden. Für mich ist dieser Glottisschlag, also die kurze Pause beim Sternchen, eine Art Experiment. Wer weiss, ob wir uns daran gewöhnen? Mein Standpunkt: Sprechen wir von Männern und Frauen, so ist es freundlich, wenn man beide anspricht. Und sonst gibt es ja unzählige weitere Möglichkeiten: «Schaulustige verfolgten das Spektakel» statt «Gafferinnen und Gaffer ...».

Legen Sie auch bei Unterhaltungen oder Vorträgen im Unterricht Wert auf geschlechtergerechte Sprache?
Geschlechtergerechte Sprache ist für mich zur Selbstverständlichkeit geworden und ich versuche – und eben, das ist mir wichtig – auf Klischees in der Darstellung von Menschen zu verzichten. Bereite ich einen Text auf für den Grammatikkurs, schreibe ich keinen Text über fürsorgliche Frauen und mutige Jungs.

Andere Menschen sind da weniger sensibel. Zum Beispiel die konservative Journalistin Tamara Wernli. Sie behauptet, die grosse Mehrheit der Menschen lehne «Gendersprache» ab. Ich hingegen habe das Gefühl, dass gendern bei jungen Menschen überhaupt nicht umstritten ist. Wie sehen Sie das?
Ich unterrichte an der ZHAW angehende Sprachprofis im Studiengang Kommunikation. Als ich im letzten September – da gab es eine kurze Phase des Präsenzunterrichts – den Erstsemestrigen erklärte, dass der Genderstern, den viele selbstverständlich in ihren Texten verwenden, nach Duden nicht regelkonform sei, erntete ich erstaunte Blicke.

Frau Wernli ist des Weiteren der Meinung, geschlechtergerechte Sprache sei «eine durch die Eliten geführte politische und kulturelle Manipulation der Sprache, mit dem Ziel, die Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen, im Sinne von: Gleichmacherei». Was sagen Sie als Dozentin einer Hochschule dazu?
Mein Beispiel zeigt doch: Die jungen Leute haben sich den Genderstern bereits angeeignet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das in der Berufsmaturitätsschule oder im Gymnasium eingetrichtert bekommen haben, wo sie zuvor waren. Ich beobachte zudem, dass zahlreiche Kommunikationsagenturen den Genderstern verwenden. Solche Agenturen erbringen in aller Regel Dienstleistungen für KMUs. Und diese KMUs wiederum wollen attraktiv sein für möglichst viele Leute in der Gesellschaft, die sich offenbar dadurch angesprochen fühlen. Tatsächlich gibt es auch einen wissenschaftlichen Diskurs zum Thema. Dieser ist durchaus kontrovers. Ich kenne im Umfeld der Schreibwissenschaften Menschen, die den Genderstern konsequent verwenden, andere lehnen ihn ab. Diskurs und Diskussion nur vermögen die Welt zu verändern. Interessant ist ja gerade im Zusammenhang mit 50 Jahren Frauenstimmrecht: Damals gab es auch das Argument «Ungleiches soll man nicht gleich machen». Die Männer haben aber am 7. Februar trotzdem «Ja» gestimmt. Die Mehrheit befand, dass Frauen Menschen sind – und alle Menschen gleich.

Interview Stefan Böker


Frau des Wortes

Ruth Wiederkehr lebt in Baden und hat beruflich tagtäglich mit Sprache zu tun. Die 37-Jährige ist Autorin mehrerer Bücher über Kommunikation, Schreibwissenschaft und Didaktik sowie zu historischen Themen. Als Journalistin war sie unter anderem für das Aargauer Kulturmagazin AAKU, die Aargauer Zeitung oder die NZZ tätig. Sie ist Teilzeit-Dozentin an der Hochschule für Angewandte Linguistik der ZHAW. Als selbstständige Redaktorin gibt sie auch Texten aus fachfremden Gebieten den letzten sprachlichen und inhaltlichen Schliff. (sb)

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