«Feminismus schadet den Männern nicht»

Fr, 29. Jan. 2021

Können sich junge Frauen von heute vorstellen, wie es war, nicht mitbestimmen zu dürfen? Der «Reussbote» hat sich umgehört

Im Interview erzählen drei Frauen unter 40 aus Birmenstorf, Nesselnbach und Remetschwil, was das Stimmund Wahlrecht für sie bedeutet, und wie es ihrer Meinung nach um die Gleichberechtigung in der Gesellschaft steht.

Als 1971 über das eidgenössische Frauenstimmrecht abgestimmt wurde, legten auch die Männer im Verbreitungsgebiet des «Reussbote» ihre Stimmzettel in die Urnen. Die meisten waren dagegen (siehe Artikel auf Seite 17). Remetschwil allerdings, wo Maura Wyler lebt und arbeitet, war eine Ausnahme. Dort sprachen sich die Männer deutlich für das Stimm- und Wahlrecht ihrer Frauen aus. Für Wyler ist es aus heutiger Sicht unverständlich, warum es gerade in der Schweiz – einem fortschrittlichen Land mit humanitärer Tradition – über 100 Jahre dauerte, um das umzusetzen. Über die abstrusen Argumente, welche die Gegner damals ins Feld führten, kann die Ehefrau und Mutter einer Tochter, die ihre eigene Kommunikationsagentur führt, heute nur befremdlich den Kopf schütteln. Doch das Argument, die Frau gehöre ins Haus, hat sich wacker gehalten und wird heute noch verwendet, wenn auch zunehmend hinter vorgehaltener Hand.
Das Stimm- und Wahlrecht ist in ihren Augen für eine direkte Demokratie essenziell. «Wie kann ein politisches System funktionieren, wenn die Hälfte der Bevölkerung nicht daran teilhaben darf?», fragt sie rhetorisch. Dennoch sollte man es nicht als selbstverständlich erachten – das habe die Corona-Krise gezeigt. Sie beobachte, wie sich viele Menschen von der Regierung entmündigt und ihrer Freiheit beraubt fühlen. «Das kann ich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen», räumt sie ein, stellt aber im selben Atemzug klar: «Für mich steht fest: Die Regierung ist vom Volk gewählt. Wir haben es in der Hand, zu bestimmen, wer das Land führt. Und wenn uns etwas nicht passt, dann gibt es direktdemokratische Prozesse, die wir nutzen können, um etwas zu verändern.»

Pflicht oder Privileg?
Darum kann sie sich nur schwer vorstellen, wie es ist, wenn man nicht wählen und abstimmen darf. «Politische Themen und Prozesse interessieren mich und entsprechend informiere ich mich regelmässig über die aktuellen Entwicklungen.» Sie nützt ihr Recht an der Urne denn auch weniger aus Pflichtbewusstsein, sondern aus der Überzeugung heraus, etwas bewegen zu können.
Der Frauenanteil in der Politik – im Parlament aktuell bei 42 Prozent, das entspricht Platz vier im europäischen Vergleich – ist für die 39-Jährige ein Gradmesser der Gleichberechtigung. «Es bewegt sich aktuell einiges in der Schweiz und gerade in der Politik haben die Frauen mächtig aufgeholt, auch dank der Initiative Helvetia ruft», meint Wyler. «Darin sehe ich ein enormes Potenzial für die Zukunft.» Denn wirkliche Gleichberechtigung sei noch lange nicht erreicht. «Die Zahlen des Bundesamts für Statistik sprechen für sich», sagt Wyler. «Frauen verdienen auch heute noch deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen, sie leisten den grössten Teil der Hausarbeit und Kinderbetreuung und sie sind in den Unternehmensleitungen mit einem Anteil von rund 32 Prozent deutlich untervertreten.»
Für die Unternehmerin, Ehefrau und Mutter ist Gleichberechtigung ein wichtiges Thema. Auf der einen Seite sieht sie sich immer wieder mit Vorwürfen konfrontiert, die von einem traditionellen Rollenverständnis von Mann und Frau herrühren. «Andererseits erlebe ich aber auch viel Wertschätzung und Unterstützung von Familie und Freunden. Ich denke, es braucht mehr Verständnis für neue Rollen und Lebensmodelle und es braucht mutige Vorbilder, die sich auf ihrem Weg nicht beirren lassen.»
Wyler wünscht sich, dass Diversität zu einem gesellschaftlich hochgehaltenen Wert wird. Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sei dabei nur ein Aspekt. «Ich spreche lieber von Chancengleichheit und meine damit, dass es möglich sein sollte, in unserer Gesellschaft unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft oder anderer Merkmale die gleichen Voraussetzungen zu haben. Wir alle können davon profitieren, denn Diversität zahlt sich aus. Davon bin ich überzeugt.» Die drei Berggemeinden Niederrohrdorf, Oberrohrdorf sowie Remetschwil erwiesen sich vor 50 Jahren mit ihrem Abstimmungsverhalten fortschrittlicher als andere Gemeinden in der Region. Ziemlich klare Ablehnung erfuhr die Vorlage in Birmenstorf: Drei von fünf Männern stimmten Nein.
Der Birmenstorferin Chiara Schlenz fällt es schwer, sich in die Köpfe der Gegner von damals hineinzuversetzen. «Für mich ist Mitbestimmung für alle, auf lokaler, kantonaler und nationaler Ebene, ein sehr wichtiger Teil der Demokratie. Daher sollte dieses Recht so vielen Personen wie möglich zugänglich gemacht werden», sagt die 19-Jährige. Sie habe schon viele schlechte Argumente gegen das Frauenstimmrecht gehört, aber eines empfindet sie als besonders sinnlos: Dass Frauen dann ihre häuslichen Pflichten vernachlässigen würden. «Dazu gibt es ganz simple Lösungsansätze», ist sie sich sicher.
Für sie ist Emanzipation ohne das Recht, abstimmen und wählen zu dürfen, nicht so richtig möglich. «Emanzipation hat sich zumindest ansatzweise aus dem Ja zum Frauenstimmrecht entwickelt.»

Auf gutem Weg?
Zur echten Gleichstellung der Geschlechter ist es in ihren Augen noch ein langer Weg. «Klar», meint die junge Journalistin und Studentin, die gerade ihr erstes Semester an der Fachhochschule beendet, «wenn man die Situation heute mit der Situation vor 50 Jahren vergleicht, leben wir gut. Und ich habe das Glück, in vielen Aspekten des Lebens nicht benachteiligt zu werden. Dennoch begegnet mir fehlende Gleichberechtigung im Alltag überall – wenn auch nur unbewusst oder in kleinen Details. Vor allem in Sachen Haushalt, Kinder und im Job ist der Weg noch lang.»
Darum wünscht sich die Jubla-Leiterin, dass der männliche Teil der Bevölkerung endlich realisiert, dass Feminismus und die Gleichberechtigung der Frauen ihnen nicht schadet. «Sondern im Gegenteil, die Gleichberechtigung der Geschlechter bringt allen Beteiligten nur Vorteile», ist sich die Birmenstorferin sicher.
Ihr Recht wahrgenommen, zum Beispiel an einer Gemeindeversammlung, hat die junge Frau noch nicht – denn sie wurde erst kürzlich eingebürgert. Sie interessiert sich jedoch sehr für Politik und sieht sich da auch in gewisser Weise in der Pflicht: Die direkte Demokratie in der Schweiz erfordere Grundwissen, da die Bevölkerung hier viele Entscheidungen treffen kann.
In Niederwil fiel das Abstimmungsergebnis ebenfalls nicht sonderlich knapp aus: Dort wurde das Stimmund Wahlrecht der Frauen mit 30 Stimmen Unterschied klar abgelehnt. Ein Leben ohne kann sich Jennifer Wiget indes gar nicht mehr vorstellen. «Ich bin es gewohnt, meine eigene Meinung vertreten zu dürfen. Es wäre ja tragisch, wenn das nicht möglich wäre», sagt die 25-Jährige. Unverständlich, wahrlich aus einer anderen Zeit, sind für sie auch die Argumente der Gegner von damals: «Es wurde oft gesagt, dass Frauen zu emotional handeln oder hysterisch werden, da ihre Logik durch Emotionen unterdrückt wird. Das ist natürlich kompletter Mist!»

Wie etwas verändern?
Der angehenden Kantonsschullehrerin bedeutet es viel, mit ihrer Stimme Einfluss zu nehmen und Menschen zu unterstützen, die ihre Ansichten vertreten. Politik werde oft von älteren Menschen gemacht. Mit den Konsequenzen leben müssten aber die Jungen. «Wählen zu gehen und abzustimmen ist mir deshalb wichtig», sagt die junge Frau, «damit ich selbst Einfluss auf meine eigene Zukunft nehmen kann. Viele sagen, eine Stimme macht doch keinen Unterschied. Genau diese Einstellung verhindert, dass sich Dinge ändern.»
In Punkto Gleichberechtigung habe die Gesellschaft schon einige wichtige Schritte vorwärts gemacht, unter anderem mit dem Frauenstimmrecht. Dennoch sei Potenzial nach oben vorhanden. Das sehe sie auch an der Schule. «In den Lehrerberufen herrscht meist eine Frauenmehrheit, in den Positionen der Schulleitung sitzen dennoch öfter Männer.» Wiget sieht ausserdem bei den Löhnen Handlungsbedarf. Frauen sollten zudem vermehrt in Führungspositionen eingesetzt werden. Ansonsten begegnen ihr in ihrem Alltag keine Ungerechtigkeiten.

Stefan Böker

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