Vor 100 Jahren: «Tschutten» für Arbeitslose

Di, 05. Jan. 2021

Fussball-Geschichte: Röbi Höhener hat in einer «Reussbote»-Ausgabe vom Februar 1921 eine historische Notiz gefunden

Die gesellschaftliche Bedeutung des Fussballs hat auch in dieser Region eine über 100 Jahre alte Geschichte. Röbi Höhener, der Mann der den «Reussbote» nach historischen Preziosen durchforstet, ist wieder mal fündig geworden.

Der «Reussbote» geht ins 123. Jahr seit seiner Gründung. Röbi Höhener blättert seit Jahren Seite um Seite alte «Reussbote»- Ausgaben durch, stets auf der Suche nach interessanten Begebenheiten von vor hundert, fünfzig und 25 Jahren. Dabei ist ihm in einer Ausgabe vom Februar 1921 nebenstehender Text ins Auge gestochen. In einer Mail schreibt er mit seinem ihm eigenen Sarkasmus: «Tschutten für Arbeitslose gefunden. Vielleicht kannst du ihn einmal als Lückenfüller verwenden.» Nun, gerade ein Lückenfüller ist daraus nicht geworden, wie nachstehende Zeilen zeigen. Mit seinem Hinweis hat Höhener die Neugier des Chronisten geweckt. Die in altdeutscher Schrift gehaltene Notiz fordert Fragen geradezu heraus: Wie sah unsere Gesellschaft vor 100 Jahren aus? Welchen Stellenwert hatte der Sport, und insbesondere der Fussball? Und weshalb dieser Aufruf im «Reussbote», Wettspiele für Arbeitslose zu veranstalten? Auf der Suche in verschiedenen Archiven zeigt sich: Fussball gespielt wurde in der Schweiz nachweislich bereits schon früher.

Engländer als Fussballpioniere
Erste Berichte von Fussball spielenden Engländern in der Schweiz gehen auf das Jahr 1855 zurück. Es waren Sprösslinge reicher Industrieller aus Grossbritannien, die das Fussballspielen in die Schweiz trugen. Die jungen Engländer kannten das Fussballspiel aus den Internaten ihrer Heimat und drängten ihre Lehrer in den welschen Nobelinternaten, das Fussballspiel auch an ihrer Schule einzuführen.
Die Geschichte des Fussballs in der Schweiz wurde stark von England, dem Mutterland des modernen Fussballs, beeinflusst: Der älteste noch existierende Fussballverein der Schweiz, der FC St. Gallen, wurde 1879 von jungen einheimischen Kaufleuten gegründet. Kennengelernt hatten sie den Fussball während ihrer Ausbildung über englische Mitschüler.

Fussball war für Noble und Reiche
Am Anfang des Arbeiterfussballs stand der Wille, sich gegen die sogenannt «bürgerlichen» Vereine abzugrenzen. Als sich die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Klassen zu verwischen begannen, verschwand auch das Bedürfnis, via Sportverein seine politische Gesinnung auszudrücken.Die ersten Fussballklubs in der Schweiz wurden denn auch allesamt von Akademikern und Kaufleuten gegründet. Auf Grund ihrer beruflichen Tätigkeit kamen sie in Kontakt mit in der Schweiz tätigen Engländern.

Generalstreik mit Folgen
Fussball war zu Beginn also eher ein Sport für bestens ausgebildete Eliten. Die sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zuspitzenden Klassengegensätze haben auch im Fussball zu grundlegenden Veränderungen geführt. In dieser Zeit entstand in ganz Europa eine eigenständige Arbeitersportbewegung, die Sport als Instrument des Klassenkampfes verstand und eine Gegenkultur zur kapitalistischen Welt aufbauen wollte. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 fiel die Schweiz in eine tiefe Wirtschaftskrise. Zu diesem Zeitpunkt blickte die Schweiz auf rund 70 Jahre fast ununterbrochenes Wirtschaftswachstum zurück. Es war ein Eisenbahnnetz entstanden. Die Industrialisierung der Schweiz fiel in diese Zeit. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte zum abrupten Ende der wirtschaftlichen Prosperität.
In der Zeitschrift «Die Volkswirtschaft» im Jahr 1910 ist zu lesen: «Durch die Aufgabe des Goldstandards zur «Finanzierung» der kriegsbedingten Knappheit und die damit verbundene starke Ausweitung der Geldmenge stieg der Konsumentenpreisindex von 100 im Jahre 1914 auf 229 im Jahre 1918. Im Gegenzug fielen die Reallöhne um 25 bis 30 Prozent. Hinzu kam die mehr schlecht als recht administrierte Kriegswirtschaft, im Rahmen derer Grundnahrungsmittel rationiert wurden. Die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung gipfelte im November 1918 in einem landesweiten Generalstreik.»
Der Generalstreik blieb nicht ohne Folgen. Die Arbeitszeit wurde verkürzt. Das Lohnniveau stieg an, was für die Arbeiterschaft neue Möglichkeiten der Freizeitbeschäftigung bedeutete.

Neue Form des Klassenkampfes
In der Ausgabe vom 4. Juli 1928 war in der Arbeiter-Turn- und Sportzeitung folgender Text zu lesen: «Die Arbeiter haben die Zeit und die Möglichkeit bekommen, sich auch mit anderen Dingen zu beschäftigen, als mit der blossen Sorge um das tägliche Brot. Neigungen und Wünsche, die bisher im Elend verkümmerten, haben sich Bahn gebrochen. Äusserlich tritt diese Wandlung zutage im Streben nach gesellschaftlicher Geltung (…). Vorerst suchten und fanden die Arbeiter Anschluss in den bestehenden ‹neutralen› Vereinen. Und mussten erkennen, wie diese Gebilde von der herrschenden Klasse als Stütze benützt werden für die Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung und ihrer Ideologie (…).

Sport nicht zum Gaudium
Und die «Arbeiter Zeitung» schrieb im Jahr 1929 über die Arbeitersportbewegung: Vom «bürgerlichen» Sport grenzte sie sich scharf ab: «Nicht Sport des Sportes willen, nicht Sport als individueller Konkurrenzkampf mit Ruhm und Preis für den Rekordmenschen, nicht Sport zum Gaudium und Nervenkitzel eines sensationslüsternen Publikums und am allerwenigsten Sport als Geschäft will und darf der Arbeitersport sein. Nein! Der Sport, der aus den Niederungen der kapitalistischen Klassengesellschaft zu den lichten Höhen der freien Menschheit drängenden Arbeiterschaft, ist seelische und körperliche Schulung und Vorbereitung der Menschen, die die neue Gesellschaft zu bilden und ihre Kultur mit gesundem Geist und starken Schultern zu tragen haben.»
Die Arbeitslosigkeit in jener Zeit war gross. Viele Familien litten Hunger. Nur etwa zehn Prozent aller Arbeiter waren gegen Arbeitslosigkeit versichert.

Keine Arbeitslosenkassen
Es waren die Gewerkschaften, welche die schon Anfang des 20. Jahrhunderts erste Arbeitslosenkassen gründeten. Auf Druck der Gewerkschaften wurde aber erst 1924 ein Gesetz verabschiedet, mit dem das Überleben von Arbeitslosen durch öffentliche Kassen geregelt wurde. Übrigens, erst 1976 wurden die obligatorischen Arbeitslosenkassen eingeführt.

Politischer Aufruf im «Reussbote»
So gesehen war der Text im «Reussbote» vom Februar 1921 ein höchst politischer Aufruf. Wie Röbi Höhener schon im vergangenen Jahr entdeckt hatte, wurde der FC Mellingen im Jahre 1920 gegründet. Im «Reussbote vom 3. September 2020 fand sich ein Artikel, der belegt, dass der FC Mellingen im Jahr 1920 ein erstes Mal gegründet worden ist. Trotz eines Aufrufes in dieser Zeitung, kamen keine weiteren Hinweise über die Gründer und ihre Motivation. Auch ist bis heute (noch) nicht überliefert, wann genau und weshalb, der Verein wieder von der sportlichen Landkarte verschwand.

Beat Gomes


Gesucht! Alte Sport-Fotos und Anekdoten

Leider gehen die alten Sportgeschichten zunehmend verloren. Deshalb der Aufruf: Haben Sie alte Fotos oder Texte, die belegen, wie damals Sport in der Region betrieben wurde? Vielleicht haben Sie solche Zeitdokumente von Ihren Eltern oder Grosseltern geerbt. Es wäre schön, wenn wir dazu die Geschichten erzählen könnten.
Wenn Sie im Besitz solcher Dokumente sind, die mindestens 60 Jahre zurückreichen, machen Sie bitte per Handy eine Kopie und senden sie diese mit einigen Erklärzeilen auf das Mobilephone von Beat Gomes 079 827 59 83 oder an die Mail-Adresse b.gomes@reussbote.ch


Schweiz – Deutschland 4:1

Das waren noch Zeiten! Am 27. Juni 1920 gewann die Schweiz ein Fussball-Länderspiel gegen Deutschland in Zürich 4:1. Die Chronisten damals wunderten sich, weil die Deutschen nur zwei Fouls begingen. Nicht weil sie so zart besaitet gewesen wären. Es stellte sich später heraus, dass die Zurückhaltung der Spieler von ganz oben angeordnet worden war. Der Grund: Die Nationalmannschaft war im geheimen politischen Auftrag unterwegs. Es ging dem Deutschen Fussball-Bund, und auch der Reichsregierung, nicht um den sportlichen Sieg, sondern um das Aufweichen der Boykottbewegung gegen den Kriegsverlierer Deutschland, den insbesondere Frankreich und Belgien im Weltverband Fifa zu organisieren versuchten. Fotoquelle: Sammlung Eggers

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Nächste Ausgabe erst am Mittwoch

Bedingt durch die kommenden Osterfeiertage erscheint der «Reussbote» erst am nächsten Mittwoch, 3. April. Demzufolge verschiebt sich der Inserateschluss auf Dienstag, 2. April, 10 Uhr. Unser Betrieb bleibt von Karfreitag bis Dienstag, 2. April, 7.30 Uhr geschlossen.

Wir wünschen Ihnen allen ein frohes und erholsames Osterfest.

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