Was tun, wenn es nichts zu tun gibt?

Di, 12. Jan. 2021

Die Gemeindeverwaltung hat eine Lehrtochter aus der gebeutelten Reisebranche übernommen

Für Lernende in Reisebüros sind die Auswirkungen der Corona-Krise besonders schlimm. Sina Lehner hat darum umgebucht. Ihre Lehrfahrt geht nun auf der Gemeinde Wohlenschwil weiter. Mit dieser Entscheidung stellt sie keinen Einzelfall dar.

Stornierungen, nichts als Stornierungen: Wenn Sina Lehner morgens ihren Computer hochfuhr, bot sich ihr tagein, tagaus dasselbe Bild. Kundinnen und Kunden warfen ihre Reisepläne über den Haufen. Und wollten angesichts unsicherer Zeiten auch keine Umbuchungen mehr vornehmen oder gar neue Ferien planen. «Ich habe je länger, je mehr das Gefühl bekommen, in der Ausbildung nicht das zu lernen, was mir später im Beruf etwas bringt», sagt die 17-jährige KV-Lehrtochter. Stornierungen seien eigentlich eine absolute Ausnahme. In der Corona-Krise machten sie den Grossteil ihrer täglichen Arbeit aus.
Grundsätzlich ist die Arbeit in der Reisebranche eine vielfältige und befriedigende Beschäftigung. Dazu ist es ein Beruf, bei dem man viel Kundenkontakt hat. Es ist unglaublich, wie viele Urlaubsmöglichkeiten es gibt und es macht Spass, diese individuell zusammenzustellen. Sina Lehner hatte ihre Ausbildung bei Knecht Reisen im Oktober 2019 entsprechend motiviert begonnen. Insgesamt neun Lernende starteten mit ihr beim viertgrössten Schweizer Reiseveranstalter. Sie sei nicht die einzige aus ihrem Jahrgang, die mittlerweile die Branche gewechselt hat, sagt die Remetschwilerin.
Dies, obwohl sich alle Mitarbeitenden und ihre Ausbildnerin grosse Mühe gegeben hätten, den Lernenden so viel zu zeigen wie möglich. «Die Ausbildung leidet», sagt sie. «Es läuft einfach nichts. Und ich glaube, die Krise wird länger gehen.» Ihre Entscheidung sei bei den Verantwortlichen ihres Betriebs auf Verständnis getroffen.

Reisebranche ist erschüttert
2020 gab es exponentiell viel mehr Wechsel bei Knecht Reisen als jemals zuvor, sagt deren Stabschef Tour Operating Matthias Reimann. «Fünf Lernende hätten sich 2020 dazu entschlossen, ihre Lehre in einer anderen Branche fortzusetzen». Ein sechster habe die Lehre abgebrochen, ohne zu wissen, wie es danach weitergeht. Gesamt entspricht das rund einem Drittel. «Eine auch nur annähernd vergleichbare Situation haben wir noch nie in unserer Unternehmensgeschichte erlebt», sagt Reimann. Die Entscheidungen der Lernenden seien zweifelsfrei auf die Corona-Krise zurückzuführen. Bis zu 80 Prozent Umsatzrückgang sei verzeichnet worden. Die Branche sei in den Grundfesten erschüttert.
Wie die Medienstelle des Departements für Bildung, Kultur und Sport mitteilt, sei dies aber kein Grund zur Aufregung. Wenn man die Zahlen aller Lernenden in allen Branchen betrachtet, gebe es im Aargau keine Auffälligkeiten. So habe es mit 95 Lehrvertragsauflösungen im Jahr 2020 nur zwei mehr als im Vorjahr gegeben. Nach Branchen getrennte Zahlen erhebt das BKS allerdings nicht. Auch Gründe für den Abbruch werden nicht festgehalten.
Sina Lehners Auswahl fiel indes nicht ohne Grund auf die Gemeindeverwaltung Wohlenschwil. Zunächst einmal muss sie hier keine Angst haben, dass die Arbeit wegen Corona ausgeht. «Und im kaufmännischen Bereich sind die Arbeiten hier vergleichbar mit denen in einem Reisebüro», sagt sie. «Vor allem gefällt mir, dass es am Schalter auch Kundenkontakt gibt.» Denn abgebrochen hätte sie nicht um jeden Preis.

Amt bot Hand beim Wechsel
Bei der Gemeinde Wohlenschwil hat man sie mit offenen Armen aufgenommen. «Unsere zweite Lernende hat in diesem Jahr aufgehört. Das hatte aber nichts mit Corona zu tun», berichtet ihr neuer Ausbilder Jörg Plüss, Leiter des Steueramts. Auch er sieht Parallelen in der Ausbildung: «Wir waren froh, den entsprechenden Hinweis vom Amt für Berufsbildung bekommen zu haben und den zweiten Ausbildungsplatz wieder besetzen zu können. Weil Sina im zweiten Lehrjahr ist, muss sie nicht von Null anfangen.» Wer motiviert ist, muss unterstützt werden, findet Plüss. Dazu werde der wöchentliche Arbeitsalltag abwechslungsreich gestaltet. Die Lernenden arbeiten tageweise in verschiedenen Bereichen, nicht wie sonst üblich mehrere Monate, und bekommen so überall etwas mit. «Zudem bringen sie frischen Wind in den Betrieb», nennt Plüss einen Vorteil für die Gemeinde.
Sina Lehner startete vorige Woche und hat sich bereits gut eingelebt. Ob die Reisebranche sich wieder erholen kann, wird sich zeigen. An den Lernenden soll es nicht liegen: Trotz aller Rückschläge sind auch 2020 schweizweit 104 Lernende in dieser Branche in ihre Ausbildung gestartet.

Stefan Böker

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