Von Strom, Goldmedaillen und Milchfälschungen

Fr, 12. Mär. 2021

1861 wurde die Käsereigenossenschaft Künten gegründet, Protokolle erzählen von Milchfälschungen, vom Tilsitergold und von Ausflügen

Als sich die Viehbesitzer 1861 in Künten zusammenschlossen, konnten sie nicht ahnen, welch bewegte Geschichte sie mit ihrer Genossenschaft rund um den Käse auslösen würden.

Über 30 Jahre lang war Sepp Brülisauer Käser in Künten. Vergangenes Jahr, im April, hatte er die Käserei seinem Nachfolger Fabian Spielhofer übergeben. Dabei dürften ihm auch die Protokolle der Käsereigenossenschaft Künten wieder in die Hände gefallen sein. Eine Zusammenfassung dieser Protokolle übergab Brülisauer vor Kurzem dem «Reussbote» und erklärte, dass der Küntener Lehrer Josef Blunschi sie 1991 entziffert und zusammengefasst hatte – die ältesten waren noch in alter deutscher Handschrift geschrieben. Die Genossenschaft hatte damals ihr 130-jähriges Bestehen gefeiert – gegründet worden war sie Ende Dezember 1861.

Die Gründung der Genossenschaft
«Man sollte sich vorstellen», schreibt Lehrer Blunschi in der Zusammenfassung, «wie sich damals das Leben ohne öffentliche Elektrizitäts- und Wasserversorgung abspielte. Das Wasser musste am Brunnen geholt werden, am Abend erhellten Öllampen die düsteren Stuben.»
In solchen Zeiten, ohne Strom, äussert sich im ersten Protokoll Gemeindeschreiber Zeier als erster Aktuar zur Gründung der Genossenschaft: «In Folge mehrfach eingegangener Berichte über die günstigen Ergebnisse der in den umliegenden Gemeinden sich befindlichen Käsereien, haben sich einige Bürger besprochen und geeinigt, auch in hiesiger Gemeinde den Versuch zur Gründung einer Käserei zu machen.» Viehbesitzer von Künten und Sulz wurden eingeladen, sie waren von der Idee angetan und so kam es zur Gründung der Käserei durch die Käsereigenossenschaft in Künten. Die Protokolle sind eine Goldgrube für Geschichten rund um Milchpreise, Käse, Landwirte, Entwicklung und Technologie bei der Käseherstellung.

Käser Hans Stöckli gewinnt Gold
Vom ersten Käser Johann Konrad, der den Bauern im Jahre 1862 einen Preis von 14,5 Rappen für drei Zentner Milch bezahlte, sind bis 1985 alle 25 Käser aufgelistet, welche seit der Gründung die Käserei geführt hatten, daneben stets auch der Milchpreis, der sich mit den Jahren erhöhte und 1990 schliesslich bei rund 100 Franken für einen Doppelzentner lag. Am längsten käste Hans Stöckli in Künten. Über 40 Jahre lang war er der Chef am Chäschessi, von 1923 bis 1965.
Zu Stöcklis Zeiten schrieb der Staat noch vor, welche Käsesorten die Käsereien herzustellen hatten. Eigene Sorten durften sie nicht entwickeln. Überall in der Schweiz hatten sie sich an die Regeln der Käse-Union und die Vorgaben des Bundesrates zu halten. In Künten sollte der Tilsiter reifen. – Liberalisiert wurde der Schweizer Käsemarkt übrigens erst 1995.
In Hans Stöckli hatten das Dorf und der Tilsiter allerdings ihren Meister gefunden. Er schien sich mit den Regeln der Käse-Union bestens zu arrangieren, sein Tilsiter kam gut an. 1964 holte er dafür Gold. In den Protokollen heisst es: «Käsermeister Hans Stöckli erhält an der Expo 1964 in Lausanne eine Goldmedaille für die Herstellung von erstklassigem Tilsiter.»

Milchfälschung: «brutales Vergehen»
Geht man zurück in die Anfänge der Genossenschaft, so ist in den Gründungsjahren wiederholt von Milchfälschungen die Rede: Die Milch wurde von den Verkäufern entweder mit Wasser verdünnt oder es wurde Rahm abgeschöpft, bisweilen auch beides gleichzeitig. Um dem Betrug auf die Schliche zu kommen, musste, mithilfe einer Senkwaage, das spezifische Gewicht der Milch ermittelt werden. Milchfälschungen seien als «brutalstes Vergehen» betrachtet worden, erklärt Sepp Brülisauer. Ihm seien auch Jahrzehnte später Fälle von Milchfälschungen erzählt worden. «Wenn sich eine Familie in der Vergangenheit dieses Vergehens schuldig gemacht hatte, so litten auch alle nachfolgenden Generationen unter der Rufschädigung.»

Die Käserei wird elektrifiziert
Über die Jahrzehnte hinweg wird die Käserei modernisiert: 1897 will die Genossenschaft gemäss Protokoll «in die Käserei von der Wasserversorgung einen Hahnen entlehnen und zugleich einen Motor mit Turbine zum Betrieb des Hüttenkübels erstellen lassen». 20 Jahre später, 1921, wird die Turbine durch einen 3-PS-Elektromotor ersetzt – der Käser ist verpflichtet, diesen, sowie sämtliches Zubehör, korrekt instand zu halten. Auf den Elektromotor folgt ein Jahr später in der Käserei auch die elektrische Lampe.
1905 beklagt der damalige Käser den mangelhaften Zustand der Käselokale. Es solle endlich einmal ein Holzschopf erstellt werden mit einem Käsekeller. Als der Schopf schliesslich angebaut war, wird in der Folge 1906 der Hüttenzins erhöht.

Milchschwemme und Ausflüge
Fein säuberlich sind in den Protokollen Beschlüsse und Veränderungen festgehalten. So wurde 1913 der Beitritt zum Aargauer Milchverband beschlossen, den man fünf Jahre zuvor, 1908, noch aus Kostengründen abgelehnt hatte; Viehbesitzer aus Sulz treten der Genossenschaft bei und liefern von mindestens 20 Kühen Milch; im ersten Weltkrieg fällt der feste Milchpreis, schliesslich muss 1916 die Milch nach Baden geliefert werden, weil dort täglich 2100 Liter Konsummilch fehlen. 1934 wird über Milchschwemme und Milchkontingentierung diskutiert. Der Vorstand beschwert sich beim Verband, weil die Berechnung des Kontingents zu Ungunsten der Genossenschaft ausfallen würde und schreibt: «Nach unserem Erachten wäre eine Kontingentierung nach Hektaren das einzig Richtige.» Der Verband allerdings geht auf das Schreiben nicht ein.
Ab den 1920er-Jahren gönnen sich die Genossenschafter auch Ausflüge: 1924 eine Autofahrt ins Wägital, 1932 mit dem Velo nach Brugg an die Maschinenschau und ein Jahr später in die Gartenbau-Ausstellung und in den Zoo in Zürich.

Brülisauer kauft die Käserei
1985 holt die Genossenschaft Sepp Brülisauer von Rossrüti, St. Gallen, nach Künten. Als der junge Käser 1989 die Käserei kauft, macht er daraus seine eigene Erfolgsgeschichte. Zum 130-Jahr-Jubiläum der Genossenschaft kann er 1991 beim «Tag der offenen Türe» seine Käserei auf dem modernsten technischen Stand zeigen. Er kreiert ausserdem, regelwidrig, eigene Käsesorten und bezahlt dafür bis zur Liberalisierung 1995 Bussen.
Bis letztes Jahr gab es die Käsereigenossenschaft Künten. 2020 sei sie aufgelöst worden, sagt Brülisauer. Kurz vor ihrem 160-Jahr-Jubiläum. Feiern kann hingegen die Käserei.

Heidi Hess

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