«Vor der Pandemie hiess es, das geht nicht …»

Fr, 21. Mai. 2021

Gesellschaft: Ein Jahr im Homeoffice, Sitzungen und Konferenzen online – das wird die Gesellschaft nachhaltig verändern, sagt die Soziologin

Innovatoren brauchen Zeit, sagt Katja Rost. Die Pandemie allerdings hat die Arbeitswelt in manchen Bereichen von einem Tag auf den anderen verändert. Nachhaltig und durchaus zum Guten, meint die Soziologin.

Wird die Gesellschaft nach Corona eine andere sein? Werden Pandemie-Erfahrungen unsere Arbeitswelt und auch unser Privatleben nachhaltig prägen? «Der externe Schock zeigt Wirkung», sagt dazu die Soziologin Katja Rost, Professorin an der Universität Zürich.

◆ Katja Rost, Corona wird irgendwann überstanden sein – im Herbst, nächsten Sommer, vielleicht dauert es viel länger ... Wie wird unsere Gesellschaft dann aussehen? Was werden wir aus der Erfahrung «Pandemie» mitnehmen?
Katja Rost: Gewisse grössere Trends, die bereits vorher beobachtet wurden, haben sich in der Pandemie verstärkt. Zum Beispiel im Bereich Nachhaltigkeit und Umweltschutz.

Woran denken Sie?
Reisen wurden von einem Tag auf den anderen komplett unterbunden. Dabei zeigte sich: Nicht jede Geschäftsreise ist wirklich nötig. Auch Konferenzen, beispielsweise in der Wissenschaft, sind online möglich – wenn auch nicht unbedingt optimal. Ich denke, es wird keine komplette Rückkehr zum alten Modell geben. In Vielem wird man sich wohl irgendwo in der Mitte annähern.

Können Sie Beispiele nennen?
Die Flexibilisierung von Arbeit: Dank neuer Technologien muss man nicht mehr unterwegs sein, man kann vor Ort arbeiten, zu Hause oder im Büro. Solche Entwicklungen haben extrem an Bedeutung gewonnen. Vor der Pandemie handelte es sich dabei um Ziele. Wie aber sollte man dorthin gelangen? Man wusste es nicht.

Das hat sich geändert?
Solche Innovatoren brauchen Zeit, um sich durchsetzen zu können... Vor der Pandemie hiess es, das geht nicht, das können wir nicht. Jetzt mussten alle mitmachen und wir stellen fest: Diese Arbeitsmodelle haben sich ausgebreitet und eingespielt. Hier wurden nachhaltige Veränderungen, die sich bereits angedeutet hatten, extrem beschleunigt. Und daran hängt ein ganzer Rattenschwanz, viele weitere Veränderungen werden folgen ...

Zum Beispiel?
Büroräume verändern sich. Der eigene Schreibtisch verliert an Bedeutung, stattdessen werden Kombinationslösungen gesucht... Dabei stellt sich die Frage: Wie muss ein Büro gestaltet sein? Wie kann es dennoch Rückzugsmöglichkeiten bieten? Ausschliesslich zu Hause arbeiten ist keine Lösung. Das schadet der Unternehmenskultur, es schadet letztlich allen.

Besteht die Zukunft aus weniger Bürofläche, aus Grossraumbüros mit rollenden Schreibtischen?
Die Fläche wird kaum zurückgehen, aber sie wird anders genutzt werden... Ich gehe davon aus, dass die Anzahl Quadratmeter für Büros konstant bleiben wird. Es kann kaum Ziel sein, dass lediglich 10 Prozent am Arbeitsort sind. Alle sollen vor Ort arbeiten können. Das Szenario von leerstehenden Schreibtischen in Einzelbüros hat aber wohl ausgedient. Neue Regelungen werden nötig. Das sehen wir schon jetzt bei progressiven Vorzeigeunternehmen – etwa bei Google.

Wie sieht es dort aus?
In modernen Büros gibt es verschiedene Räume für verschiedene Zwecke. Das zeigen neue Nutzungskonzepte: So sind zum Beispiel in gewissen Räumen moderne Kommunikationsmedien nicht erlaubt. Solche Räume funktionieren wie ein Ruheabteil oder eine Bibliothek, keine Gespräche, keine Telefone. Die Nutzungskonzepte zielen darauf ab, dass ich lediglich 50 oder 60 Prozent in der Woche im Büro bin.

Gibt es weitere Veränderungen?
Die Integration von Frauen in Arbeitsmärkte, auch Männern, besonders auch hochqualifizierte. In diesem Bereich hat sich die Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit zunächst für viele vereinfacht. Unter anderem weil Sitzungen online, per Zoom oder Teams, abgehalten werden. Der Arbeitsalltag kann freier gestaltet werden. Hier waren traditionelle Barrieren während langer Zeit aufrecht erhalten worden. Von manchen Akteuren ganz bewusst, auch um neuen Gruppen den Zugang zu versperren.

In vielen Familien hat sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf also vereinfacht? Frauen und Mütter waren aber doch eher doppelt belastet?
Ja, diese Seite gibt es auch. Wir müssen bei den Berufen unterscheiden: Bei Anwesenheitsjobs wie Verkäuferinnen oder Pflegefachfrauen, auch Ärztinnen ist Homeoffice ausgeschlossen. Ihr Arbeitsalltag wurde mit der Pandemie sicher schwieriger. Auch, weil die traditionelle Rollenverteilung in vielen Familien weiterhin besteht und die Frauen dann wirklich für alles zuständig sind.

Erwerbstätige Mütter im Homeoffice konnten Homeschooling und Betreuungsarbeit einfacher bewältigen, beziehungsweise diese Arbeit mit ihren ebenfalls im Homeoffice tätigen Männern teilen?
Langfristig gesehen, ja. Kurzfristig war Homeschooling sehr anstrengend – aber seit einiger Zeit gehen die Kinder ja wieder in die Schule. Langfristig wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie dank Homeoffice für gewisse Gruppen ein Vorteil.

Weniger reisen, das bezieht sich vor allem auf Geschäftsreisen?
Geschäftsreisen werden definitiv zurück gehen. Alle Unternehmen stehen unter Druck, auch politisch. Sie müssen Regelungen betreffend Nachhaltigkeit erfüllen. Öffentliche Unternehmen, Universitäten und Behörden, sind schon heute gezwungen, Geschäftsreisen zu reduzieren und müssen das dokumentieren. Das Gleiche gilt für Aktiengesellschaften, auch sie werden von Aktionären, Kundinnen, Mitarbeitenden an solchen Faktoren gemessen. Insofern zeigt dieser externe Schock Wirkung.

Wie steht es um private Reisen?
Schwierig, da wird man wohl zunächst einen extremen Nachholeffekt beobachten. Ich denke, dass sich Fluggesellschaften vor Buchungen kaum retten können. Viele wollen einfach raus, Tapetenwechsel. Bleibt die Frage, wie entwickelt sich das langfristig? Die jüngere Generation, die unter 30-Jährigen, wird sich daran halten. Sie wird versuchen, weniger zu fliegen. Das wird verinnerlicht. Aber ist das bereits nachhaltiges Verhalten? Wir sehen doppeldeutige Signale: Bei Geschäftsreisen sind alle sehr strikt, das will niemand mehr. Früher war es «in», um die Welt zu kommen. Heute bleiben auch Junge eher lokal im Schrebergarten (lacht).

Tatsächlich? Der Nachholeffekt wird doch enorm sein?
Ja, na gut, wir müssen wirklich unterscheiden. Dieser akute Nachholbedarf wird sich nach ein, zwei Jahren legen. Ich gehe davon aus, dass man keinen Anstieg beobachten wird. Der Verlauf wird beim privaten Reiseverhalten eher konstant sein, wenn nicht sogar abflachend. Das zeigen verschiedene Trends: Ferien vor Ort boomen, in der Schweiz, in Deutschland oder in Frankreich, selbst wenn solche Ferien bisweilen teurer sind. Auch Camping, der Wunsch nach einem Garten, einem Schrebergarten. Hier verstärken sich Trends, die sich ebenfalls bereits abgezeichnet haben.

Wie sehen Sie die Entschleunigung, besonders auf privater Ebene?
Entschleunigung wäre zunächst ja etwas Positives. Aber vielen war es dann doch zu entschleunigt, sie sind in ein Loch gefallen. Insofern ist es gut, wenn sich das normalisieren kann, wenn Besuche im Schwimmbad, Restaurant, Museum oder Kino wieder möglich sind. Diese Angebote werden sich kaum ändern. Ich jedenfalls sehe bei diesen Angeboten nichts, das überflüssig geworden wäre aufgrund der Pandemie.

Keine neuen Muster im Privatleben?
Vielleicht sollte bei den Lokalisierungstrends untersucht werden, ob die Vereinstätigkeit wieder zunimmt? Das Engagement im Sportverein, in der Altenpflege? Für eine Solidargemeinschaft ist das extrem wichtig, letztlich auch für die Demokratie. Möglicherweise haben die Menschen Lust bekommen, sich wieder vermehrt vor Ort zu engagieren? Sie haben gemerkt, wie wichtig solche Gemeinschaften sind?

Mehr tun für die Gemeinschaft?
Genau. Vieles hat gefehlt, man war wirklich auf sich alleine gestellt, hat höchstens mal über den Gartenzaun mit dem Nachbarn geredet ...

Sind gewisse Gruppen einfacher durch die Pandemie gekommen?
Ganz klar haben Gruppen, die sozioökonomisch schlechter gestellt sind, viel mehr gelitten als diejenigen, die eine hohe Bildung haben. Einfacher war es auch für Leute mit Beamtenstatus – dazu gehöre auch ich. Es gab keine Arbeitsunsicherheit und zu Beginn der Pandemie, im Homeoffice, kaum Angst vor Ansteckungen. Das erlebte das Verkaufs- oder Pflegepersonal ganz anders. Hinzu kommen indirekte Effekte ...

Das heisst?
Wo wohne ich? In welchem Quartier? In ärmeren Quartieren kamen negative Auswirkungen viel deutlicher zum Tragen als in wohlhabenderen Gegenden. Wegen Kurzarbeit haben Existenzängste und Gewaltdelikte zugenommen, Zusammenleben auf kleinstem Wohnraum ist schwierig, Kindern fehlt die Unterstützung in der Schule und meist auch die Infrastruktur für Homeschooling. Es ist schlimm, was teilweise in diesen Gruppen passiert ist. Das wird gerne ausgeblendet … Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich sehr weit aufgetan. Soziale Ungleichheit kriegen Sie nicht weg. Diese Lebenschance, sie wurde für eine Gruppe vergrössert und für die andere verkleinert. Das wird sich als kumulativer Nachteil oder Vorteil für diese Generation weiter entwickeln.

Heidi Hess


Katja Rost

Katja Rost, geboren 1976 in Gera, Deutschland, ist Professorin für Soziologie und Privatdozentin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wirtschafts- und Organisationssoziologie, der digitalen Soziologie, sozialer Netzwerke und Diversität. (red.) 

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