Die Kantonsgeschichte wird endlich gebändigt

Fr, 04. Jun. 2021

Wie hat sich der Aargau seit 1950 entwickelt? Ein Buch, Filme und Zeitzeugengespräche geben Aufschluss in «Zeitgeschichte Aargau»

Im Herbst erscheint der vierte Band der Kantonsgeschichte. Der Birmenstorfer Patrick Zehnder gehört zum Autorenteam. Er erzählt von Gesprächen mit Zeitzeugen und davon, wie sich das Reusstal zum Gemüsetal entwickelte.

Er blättert in Band drei der Aargauer Geschichte, erschienen 1978, vor über 40 Jahren. Das ist lange her. Erzählt wird in diesem Band, wie sich der Aargau zwischen 1885 und 1953 vom Agrar- zum Industriekanton entwickelte. «Der Aargau», sagt der Birmenstorfer Historiker Patrick Zehnder, «war weit voraus in der kantonalen Geschichtsschreibung». Drei Bände Kantonsgeschichte existieren bislang, historisch aufgearbeitet sind die Jahre von 1803 bis 1953. Band vier aber fehlt. Inzwischen sind allerdings auch diese jüngsten Kapitel geschrieben: Buchvernissage ist im Herbst, am 13. November 2021, im Aarauer Stadtmuseum.

Unterwegs zu Band vier
Die Historische Gesellschaft Aargau (HGA) hatte das Projekt «4. Band Kantonsgeschichte» angeregt. Rund zwei Millionen Franken hatte daraufhin der Aargauer Regierungsrat aus dem Swisslos-Fonds für die Umsetzung des Projekts gesprochen. Wer aber sollte die Geschichte des Aargaus der letzten 50 Jahre aufarbeiten? – Von einer «grossen Kiste», spricht Patrick Zehnder. «Einmal in zwei Historikergenerationen besteht die Möglichkeit, bei einem solchen Werk mitarbeiten zu können.» Heute ist Zehnder einer von acht Autorinnen und Autoren und gemeinsam mit dem Historiker Fabian Furter auch für die Gesamtleitung des Projektes «Zeitgeschichte Aargau» verantwortlich.
Zehnder ist seit vielen Jahren auf lokaler und regionaler Ebene als Historiker tätig und hat auch beim Historischen Lexikon der Schweiz mitgearbeitet. Mit Fabian Furter besprach er Anfang 2018 ein mögliches Vorgehen. Die beiden erarbeiteten ein Konzept und suchten Autorinnen und Autoren. Erwünscht war eine gute Durchmischung in Bezug auf Alter, Geschlecht und Region. «Bewusst sollte der Nachwuchs gefördert werden», sagt Zehnder – mit Jahrgang 1967 ist er selber der Älteste.

Das Buch und seine Teilprojekte
Seither forschten Astrid Baldinger, Maria Meier, Annina Sandmeier-Walt und Ruth Wiederkehr sowie Fabian Furter, Titus J. Meier, Fabian Saner und Patrick Zehnder zu Industrie und Dienstleistung, Wohnen und Arbeiten, Glaube und Frömmigkeit oder auch zu Jugendkultur, Umweltschutz und Staatswesen im Kanton Aargau. Auf knapp 500 Seiten entsteht mit vielen Bildern Band vier, Geschichte des Aargaus seit 1950.
Das Buch bildet als wissenschaftliche Untersuchung die Basis des Gesamtprojektes «Zeitgeschichte Aargau», gleichzeitig ist es lediglich eines von fünf Teilprojekten. Gefilmte Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus allen Bezirken im Aargau gehören ebenso zum Projekt wie zahlreiche Online-Veröffentlichungen oder Arbeitsmaterialien, die auf verschiedenen Schulstufen zu Unterrichtszwecken verwendet werden können.
Bereits jetzt können über die Webseite Filme und Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen abgerufen werden. Brigitta Luisa Merki, Choreografin von Flamencos en route, oder Malik Allawala, Ingenieur und Pressesprecher Aargauer Muslime, kann man beim Erzählen zuhören. Auch Frauen und Männer aus dem Reusstal reden über ihren Alltag, über persönliche Veränderungen und Veränderungen in der Arbeitswelt. Zu Wort kommen etwa Angela und Lorenz Humbel von der Brennerei Humbel in Stetten, Roland Brack vom gleichnamigen Online-Handel in Mägenwil, Hans-Peter Widmer aus Mülligen, stellvertretender Chefredaktor beim «Aargauer Tagblatt» oder Raphael Zehnder, Kulturjournalist aus Birmenstorf, aktiv Anfang der 1980er-Jahre in der «Badener Bewegig».
Die Gespräche mit manchen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hätten sich durchaus als Herausforderung erwiesen, sagt Patrick Zehnder. Viele hätten zunächst bescheiden abgewunken, wollten keine allzu grosse Bedeutung erlangen in diesem wissenschaftlichen Kontext. «Wenn wir sie zum Mitmachen bewegen wollten, mussten wir ihnen ihre Leistungen aufzeigen, erklären, warum ihre Erlebnisse, historisch gesehen, wichtig sind.» Wer sich die Zeit nimmt – und die braucht es für die rund einstündigen Gespräche – in diese Aufzeichnungen hineinzuhören, erlebt Geschichte hautnah.

Heidi Hess


Wie aus dem Reusstal ein Salat-, Spinat- und ein Apfeltal wurde

Zum Gespräch über den vierten Band bringt Patrick Zehnder das von ihm verfasste Kapitel zur Landwirtschaft mit: «Vom Aargauer Mischbetrieb zum spezialisierten Grosshof: Deagrarisierung nach 1950». Es geht um Arbeitskräfte, Produktionssteigerung oder Güterregulierung; es geht auch um Wein-, Obst- oder Gemüseanbau. Wir greifen uns hier die Passagen zum Obst- und Gemüseanbau heraus, weil sie im Reusstal die Existenz vieler Landwirtschaftsbetriebe sichern. Anschaulich und dicht beschreibt der Historiker den Gemüsebau im Aargau, der von überregionaler Bedeutung ist und landesweit hinter dem Berner Seeland an zweiter Stelle steht. Gefragt war Gemüse, welches oft über den Eigenbedarf hinaus in bäuerlichen Gemüsegärten wuchs, nicht nur auf Märkten in Aargauer Kleinstädten. Interessiert waren schon vor dem Zweiten Weltkrieg auch die Seethal-Konservenfabrik in Seon oder Hero Conserven in Lenzburg: Aus Äckern wurden in der Folge Felder mit Rüebli, Zwiebeln, Lauch und Kabis. Ehemalige Marktfahrer-Nebenbetriebe spezialisierten sich auf Frischgemüse: Kopfsalat, Spinat, Gurken oder Tomaten. Birmenstorf als grösste Gemüsebaugemeinde im Kanton sowie das umliegende Reusstal stellten sich auf den Markt der Stadt Zürich ein.

Einsatz von Pflanzenschutzmittel
Nicht nur das Klima war in diesen Gebieten geeignet, es gab auch genügend Wasser. «Ausserdem ermöglichte die Verfügbarkeit von Erdölprodukten maschinelles Arbeiten, ebenso das Heizen von Gewächshäusern und das Einrichten von Plastiktunnels und Bodenfolien», schreibt Zehnder. Dünge- und Pflanzenschutzmittel kamen zum Einsatz. Sie steigerten Zahl und Qualität der jährlichen Ernten, belasteten aber auch das Grundwasser durch Rückstände von Nitrat und Bromid und zogen langwierige Sanierungen nach sich. Dabei waren es nicht zuletzt finanzielle Anreize, die den Einsatz von Pflanzenschutz und Düngemitteln begünstigten. Knapp wird skizziert, wie die Leiter von Ackerbaustellen nicht nur die Ernte koordinierten, sondern auch kontrollierten, ob sich auf Feldern Unkräuter, Pilze oder Schädlinge breitmachen. «Bauern, deren Äcker von solchen Problemen betroffen waren, erhielten nicht die vollen Subventionen.» Das wiederum reicht weit: «Das von 1979 bis 2019 verwendete Fungizid Chlorothalonil beispielsweise findet sich als Abbauprodukt im Grundwasser vieler Gemeinden des Aargauer Mittellandes.»

1,5 Millionen Bäume verschwinden
Stets geht es um Verständnis und um Zusammenhänge: Mängel beim Obst – verwurmte Kirschen, verschorfte Äpfel – entsprachen den Bedürfnissen der Konsumentinnen und Konsumenten nicht mehr. Es kam zum Ersatz der Hochstammbäume durch Niederstammkulturen. «Von den 1,8 Millionen Obstbäumen Mitte des 20. Jahrhunderts», fasst Zehnder zusammen, «reduzierte sich der Bestand im Aargau auf 228 000 zur Jahrtausendwende.» Das verbesserte die Aussichten des Obstbaus im Aargau und erlaubte eine rationelle Bewirtschaftung – es schränkte aber auch die Artenvielfalt ein.
In den 1990er-Jahren setzte eine Gegenbewegung zurück zu Hochstammbäumen ein, teils gefördert mit finanziellen Beiträgen. (hhs)

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