Invalidenrente nach Datenaustausch

Fr, 13. Aug. 2021

Wie ein langjähriger Sozialhilfebezüger mit Hilfe der Lungenliga für seine Invalidenrente kämpfte

Aus Schicksalen werden heutzutage Datensätze. Zeit, den Menschen hinter einem Fall kennenzulernen, bleibt nicht. Und wer an einer wichtigen Stelle das falsche Kreuz oder die falschen Angaben macht, hat verloren. Das beweist der Fall eines Mannes aus der Region, der mit Hilfe der Lungenliga für seine IV-Rente kämpfte.

Hätte Walter H. (Name geändert) nicht mit Hilfe der Lungenliga eine Anwältin bekommen, dann sähe es jetzt gar nicht rosig für ihn aus. Im schlimmsten Fall, da ist sich der schlaksige, braungebrannte Mann sicher, hätte er seine Wohnung verloren. Walter H. sitzt im penibel aufgeräumten, holzgetäfelten Wohnzimmer, auf dem Tisch ausgebreitet die Dokumente seiner Krankheitsgeschichte. Früher sei er selbstständig gewesen, hatte eigenen Angaben nach eine Karosseriewerkstatt. Auch als Chauffeur sei er unterwegs gewesen. Glänzende Modellautos in Vitrinen zeugen immer noch von seiner Leidenschaft für schöne Fahrzeuge. Selber Autofahren kann er allerdings schon lange nicht mehr.

Letzte Stelle: Müllabfuhr
Walter H. ist arbeitsunfähig. Seine Hände zittern. Er hat Mühe, die richtigen Worte zu finden, sich exakt zu erinnern oder die Papiere zu ordnen. Die letzte Stelle, die er hatte, war 2019 in einem 50-Prozent-Pensum bei der Gemeinde Niederrohrdorf. Dank Unterstützung des Sozialamts konnte er beim Bauamt als Hilfsarbeiter antreten. Es war eine auf zwei Jahre befristete Stelle, die im besten Fall dazu führen sollte, ihn in einem «richtigen» Job unterzubringen. Eine Arbeitsmassnahme sozusagen. Ihm machte die Tätigkeit Spass. «Ich habe Abfallfuhren und Gartenarbeit gemacht», sagt der heute 57-Jährige. Durch die Tätigkeit erlangte er ein Stück Freiheit zurück, war nicht mehr vom Sozialamt abhängig, bei dem er seit vielen Jahren vorstellig war. Doch das Glück währte von kurzer Dauer.
Im August desselben Jahres versagte seine Atmung. Warum, das haben die Ärzte erst nach mehreren Untersuchungen und Krankenhausaufenthalten feststellen können. Diagnose: Aspergillom. Darunter versteht man eine Schimmelpilzinfektion. Insgesamt vier Operationen seien infolgedessen nötig gewesen. Es ist nur ein Schicksalsschlag von mehreren. Schon 2009 hatte H. einen Hirnschlag erlitten, habe mühevoll alles von Grund auf neu erlernen müssen: sprechen, gehen, feinmotorische Bewegungen. 2016 erneut ein Schlaganfall. Kognitive Einschränkungen machen ihm seitdem zu schaffen. Die Lungenerkrankung führte zusätzlich dazu, dass er Atemnot bekommt, wenn er sich anstrengt oder schwere Sachen trägt. Wie seine langjährige behandelnde Ärztin schreibt, geht sie davon aus, dass eine allenfalls vorhandene «Restarbeitsfähigkeit» nicht verwertbar ist. Selbst auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt wäre es ihm unmöglich, eine Stelle zu finden.
Doch wie schon in den Jahren zuvor lehnte die zuständige IV-Stelle seinen Antrag auf Invalidenrente ab. Warum?

Eine simple Rechnung?
Ob eine Person eine Rente erhält, wird mittels einer Formel berechnet. Es soll der theoretische, weiterhin mögliche Verdienst dem Verdienst gegenübergestellt werden, den eine Person erzielen könnte, hätte sie keinerlei gesundheitliche Probleme. Je grösser der Unterscheid, desto besser für den Antragsteller. Die Zuständigen bei der SVA Aargau, so steht es ebenfalls in den Akten, schickten H. deswegen einen Fragebogen. Sein Pech war, dass er darin ungeschickt antwortete.
So gab er wahrheitsgemäss an, seit seinem ersten Schlaganfall höchstens im 50-Prozent-Pensum gearbeitet zu haben. In der Beurteilung der SVA wurde daraus: Ohne seine Lungenprobleme würde der Antragsteller 50 Prozent arbeiten. Das so erzielte, theoretische Einkommen war zu niedrig. Zudem befand der Regionale Ärztliche Dienst, H. sei immer noch zu 30 Prozent arbeitsfähig. Das Ergebnis lautete also: «Das Leistungsbegehren wird abgewiesen.»
Ein Kontakt unter vier Augen fand indes nicht statt. Zwar gab es laut Akten ein Telefongespräch. Dieses wurde aber von H. abgebrochen. Weitere Versuche, ihn zu erreichen, scheiterten. Kurioserweise hat auch die Anwältin, die H. über die Lungenliga bekam, den Mann noch nie persönlich getroffen. Sie kämpfte allerdings gut für ihn. Ihr Hauptargument war: In der ganzen Beurteilung werden die Vorerkrankungen, namentlich die Schlaganfälle, ja unter den Tisch gekehrt. Wäre H. bei voller Gesundheit, dann würde er sicher zu 100 Prozent arbeiten. Danach sei nie ausdrücklich gefragt worden.
Dieser Argumentation folgte die SVA in ihrer Neubeurteilung. Und zwar schnell. Ende Juli reichte die Anwältin den Einwand ein. Am 6. August wälzte eine Fachspezialistin die Akten erneut. Schon am 9. August flatterte H. ein neuer Vorbescheid ins Haus – über den dieser sich natürlich sehr freute. Sollte es innert 30 Tagen keinen Einwand geben, steht ihm rückwirkend auf 1. August eine Rente zu. Wie hoch diese wäre, wird sich zeigen. Mit ziemlicher Sicherheit muss sich Walter H. um seine Wohnung keine Sorgen mehr machen. Und die Menschen, die über sein Schicksal entscheiden, könnten zukünftig bei ihm an der Türe klopfen. Theoretisch.

Stefan Böker

Ganzer Artikel ist nur für Abonnenten verfügbar.
Kategorie: 

Stellenangebote

Immobilienangebote

Kommende Events

Weitere Angebote

Trending

1

Spektakel und eine ganze Menge Scheine

Das Team von Pitbike Schweizermeister MD Performance enthüllt an einem Sponsoren-Apéro im «Stadttörli» sein neues Bike

Wie es sich für Schweizer Meister gehört: Martin Wernli und Dennis Fischer luden im Stadttörli zum Happening der Sponsoren. Dabei enthüllten sie mit viel Spektakel ihr neues Bike, mit dem der Titel verteidigt werden soll. Und sie konnten sich über viele Scheine in der Rennkasse freuen.

Kasse ist vielleicht das falsche Wort. Ei…