«Die Geflüchteten wollen nicht Opfer bleiben»

Fr, 15. Okt. 2021

40 bis 50 Prozent aller Geflüchteten leiden an Traumafolgestörungen. Bei unbegleiteten Minderjährigen sind es bis zu 80 Prozent. Sie brauchen psychotherapeutische Hilfe, aber auch Menschen, die sie im Alltag unterstützen. Der Verein «Psy4Asyl» hat ein entsprechendes Netzwerk aufgebaut.

Angefangen hat «Psy4Asyl» vor fünf Jahren als Fachgruppe des Verbands der Aargauer Psychologinnen und Psychologen. Deren Präsidentin ist Sara Michalik: «Ich habe damals erfahren, wie gross die Not ist und wie hoch der Bedarf an Therapieplätzen», berichtet die Psychotherapeutin von ihrem ersten aufwühlenden Besuch in einer Asylunterkunft für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA). Damals hätten im Kanton hunderte spezialisierter Therapieplätze gefehlt. Kurzerhand schloss sie sich mit einige Kolleginnen- und Kollegen zusammen. In ihren Praxen bieten sie seither kostenlose Einzeltherapien für Flüchtlinge an. In den letzten Jahren ist das Projekt aber den Kinderschuhen entwachsen, es brauchte neue Strukturen. Seit Kurzem ist «Psy4Asyl» ein Verein, in dem rund 40 Fachpersonen aus dem psychosozialen Bereich – darunter Psychiater, Psychotherapeuten, Lerntherapeuten, Ärzte und Ernährungsberater – interdisziplinär zusammenarbeiten. Diese bilden wiederum Betreuer und Freiwillige weiter, die in Asylunterkünften tätig sind. Freiwilligenarbeit im Wert von über 100 000 Franken kommt so pro Jahr zusammen. Knapp 150 Asylsuchende, anerkannte und abgewiesene Flüchtlinge, profitieren jährlich von den Angeboten.

Teils jahrelang auf der Flucht
Ein Anliegen des Vereins ist es, die Bevölkerung für das Thema Flucht und Trauma zu sensibilisieren und aufzuklären. So könnten traumatische Erlebnisse in verschiedenen Phasen auftreten, erklärt Sara Michalik. Es gebe Menschen, die erlebten in ihrem Herkunfstland Krieg am eigenen Leib: «Folter, Gefangenschaft, aber auch Naturkatastrophen können die Menschen traumatisieren». Die zweite Phase sei die eigentliche Flucht. Hier habe es in den letzten Jahren aufgrund der teilweise sehr langen Fluchtdauer eine Zuspitzung gegeben: «Ich habe einen 17-Jährigen, der war seit vier Jahren unterwegs», berichtet die Therapeutin. Das schreckliche an der Flucht sei aber nicht nur die gefährliche Überfahrt, sondern auch Hunger und erlebte Gewalt, etwa in den Flüchtlingscamps in Griechenland. Dabei seien die, die es hierher schafften oft die Stärksten: «Frauen und Kinder sind die Vulnerabelsten, sie haben oft entweder gar keine Chance zu fliehen oder überleben es nicht», erklärt Michalik. «Hier sind die Menschen zwar in Sicherheit, aber damit ist noch lange nicht alles gut», fügt die Therapeutin an. Postmigratorische Faktoren seien ebenfalls nicht unbedeutend. Dazu gehört hierzulande das lange Warten während des Asylverfahrens und die damit einhergehende Unsicherheit; nicht arbeiten zu dürfen, keine Perspektive zu haben. Dazu kämen Angst und Sorge um Angehörige, die noch auf der Flucht oder zurückgeblieben seien: «Ich fühle mich schuldig, dass ich überlebt habe», habe ein 17-Jähriger ihr kürzlich gestanden, berichtet die Psychologin sichtlich bewegt. Angst, Depressionen, Schlaflosigkeit und posttraumtische Belastungsstörungen sind die Folge der traumatischen Erfahrungen. Hinzu kommen in Folge eine Vielzahl körperlicher Beschwerden wie Kopf- oder Rückenschmerzen.
Oft wüssten die Betroffenen selbst nicht, was mit ihnen los ist, erzählt Michalik. Bei Gruppengesprächen erfahren die Geflüchteten, die derzeit hauptsächlich aus Afghanistan, Syrien und Eritrea kommen: «Was ist mit dir los, warum bist du immer so gestresst». Anschliessend gehe es um Stabilisierung und die Fähigkeit, mit den Symptomen umzugehen sowie die negativen Gedanken und Bilder zu stoppen. Beschäftigung und Sport seien dabei ebenfalls entscheidend, weiss die Therapeutin.

Aufeinander zugehen
Weil das Geld, zum Beispiel für ein Fitness- oder Sport-Abo, fehle, seien die Vereine gefragt. Überhaupt spiele die Gemeinde, in der die Geflüchteten untergebracht sind, eine wichtige Rolle: «Dort wo etwas investiert wird, gibt es auch weniger Sozialhilfeempfänger». Und das trage wiederum zur Stabilisierung und psychischen Gesundheit der Migranten bei. Und was können Privatpersonen tun? «Wahrnehmen, sich interessieren, neugierig sein, fragen», fasst die Psychotherapeutin zusammen: «Wir müssen unsere eigenen Ängste und Vorurteile abbauen». Es gehe um Begegnungen und darum, die Menschen mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Fähigkeiten ernst zu nehmen: «Menschen möchten selbstwirksam sein und aus der Hilflosigkeit herauskommen», erklärt sie und erzählt von einem jungen Syrer, der ihr stolz seinen Pulli gezeigt habe, den er mit Hilfe einer Schweizerin genäht hatte: «Schau, den habe ich selber gemacht!» «Das sind hundert Therapiestunden!», erklärt Michalik. Oft sind es die kleinen Erlebnisse, die heilen helfen.

Michael Lux

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