Arbeit ist sehr wichtig – Fussball als Ausgleich

Fr, 15. Okt. 2021

Ohne Arbeit wäre es langweilig. Da sind sich beide einig. Sie sind daher froh, dass sie eine Arbeit beim Verteilzentrum von Migros online in Bremgarten gefunden haben. Ihr Ziel ist es möglichst selbstständig für sich sorgen zu können.

Bereits um 5.30 Uhr ist Mohamed Hussein Kazemi (25) bei der Arbeit. Da so früh noch kein Bus fährt, legt er die Strecke mit dem Fahrrad zurück. Und das bei jeder Witterung. «Die Arbeit ist gut», sagt er. Kazemi arbeitet, wie viele seiner Kollegen aus dem Asylzentrum in Niederwil, beim Verteilzentrum Migros online in Bremgarten. Bei Arbeitsantritt beklebt er als erstes die Boxen mit den ausgedruckten Bestelllisten der Kundinnen und Kunden. Danach sucht er die Artikel im Lager zusammen. Da er inzwischen gut Deutsch spricht, findet er in den Regalen die Produkte immer schneller. «Am Anfang war wegen der Sprache alles schwieriger», sagt er. «Ich fühlte mich wie ein Kind, das in eine andere Welt kommt.» Seit 4,5 Jahren lebt Kazemi in der Asylunterkunft in Niederwil. Leider habe er keinen Kontakt zur Bevölkerung. «Es würde mich freuen, Kontakt zu haben und auch die Kultur zu lernen», sagt er. Schön fand er, als er vor drei Jahren am Neuzuzügertag teilnehmen durfte. Für ihn ein unvergessliches Erlebnis. An diesem Tag konnte er zusammen mit anderen Neuzuzügern Spiele machen, um das Dorf besser kennenzulernen und anschliessend sich am Apéro mit dem einen oder anderen Teilnehmer unterhalten. Leider haben sich daraus keine weiteren Kontakte ergeben. Den vorläufig aufgenommenen Asylsuchenden ist es erlaubt, wenn es die Corona-Situation zulässt, Einladungen aus der Bevölkerung anzunehmen. Als Kazemi nach seiner Ankunft in der Schweiz vor 5,5 Jahren in Aarau lebte, kam zwischendurch ein Schweizer vorbei und lud ein paar der Asylsuchenden auf Ausflüge in die Berge ein. Die Berge haben ihn beeindruckt. Hätte er Geld übrig, würde er sofort wieder mit einer Seilbahn auf einen Berggipfel fahren.

Eigene Wohnung und Arbeit
Zuerst will Kazemi andere Ziele verfolgen, als seine Freizeitgestaltung. Der gebürtige Afghane würde gerne in der Schweiz bleiben. Aktuell hat er den Status F2. Damit können ihn Arbeitgeber anstellen. «Seit kurzem müssen die Arbeitgeber keine Bewilligung mehr einholen. Es gibt jedoch eine Meldepflicht», sagt Gilliana Steffen, Betreuung Asyl.

Deutsch im Reusspark verbessert
Eigentlich ist Kazemi Schuhmacher. Er arbeitete vor seiner Flucht sieben Jahre im Beruf in seiner Heimat. «Es gibt nicht viele Jobs als Schuhmacher in der Schweiz», sagt er. Gerne würde er die F-Bewilligung erhalten, um an bessere Jobs zu kommen. Könnte er eine Lehre machen, würde er eine Schreinerausbildung wählen. «Als Schreiner sieht man, was man gemacht hat und kann erst noch etwas Sinnvolles herstellen», sagt er. Bei seiner Ankunft in der Schweiz konnte er zuerst ein sieben monatiges Praktikum beim Reusspark, ein Beschäftigungsprogramm vom Kanton, machen. «Dank des Kontakts zu den Bewohnern lernte ich Deutsch», sagt er. Auch diese Arbeit habe ihm gefallen. Trotzdem ist er dankbar, dass er nun den Job beim Verteilzentrum hat. Anfangs Dezember kann er auf die Nachtschicht wechseln. Das sei besser, da er dann nicht mehr mit dem Velo fahren muss, sondern den Bus nehmen kann. Sein Traum ist es, eine eigene Wohnung zu haben. Verdienen die vorläufig aufgenommenen Ausländer genügend Geld, können sie auch selbstständig wohnen. Einige der ehemaligen Bewohner der Asylunterkunft sind es bereits. Sie sind ein Vorbild für ihn. Die Eltern von Kazemi leben in Pakistan. Als vorläufig Aufgenommener kann er sie nicht besuchen. Er hat sie seit fünfeinhalb Jahren nicht gesehen. Immerhin könne er sie zweimal pro Woche über Whatsapp anrufen. Das, was in seinem Heimatland Afghanistan abgehe, sei traurig. Mehr will er dazu nicht sagen. Seine neue Heimat in Niederwil gefällt ihm gut. Alles sei so ruhig hier.

Nachtschicht ist gut
Zaher Husseyni (25) geht arbeiten, wenn die meisten Leute es sich zu Hause auf dem Sofa gemütlich machen. Eine Woche beginnt seine Schicht um 19.30 Uhr die andere um 20 Uhr. Sie endet um fünf Uhr in der Früh. Er muss die Boxen für Tiefkühlprodukte bereitstellen. Dazu holt er die gebrauchten Boxen aus dem Kühllager und entfernt darin die Plastikfolie. Dann geht es ans Reinigen. Dafür erhitzt er sie. Nach dem Abkühlen stellt er die gereinigten Boxen wieder in den Kühler. Sie sind nun bereit für neue Tiefkühlprodukte. «Die Arbeit ist gut», sagt er. Ich mache sie gerne.» Davor machte er eine Vorlehre im Gartenbau. In seiner Heimat in Afghanistan war er ebenfalls im Gartenbau tätig. Regelmässig zur Schule gehen konnte er als Kind nicht. Die Vorlehre in der Schweiz konnte er wegen mangelnden Deutschkenntnissen nicht beenden. Die Berufsschule war dadurch zu anspruchsvoll für ihn. Zudem plagten ihn Rückenschmerzen. Trotz des Berufswechsels, hat er immer noch ein Faible für Pflanzen. Vor der Asylunterkunft wächst ein einzelner Rosenstrauch. Im Frühjahr schnitt er ihn fachgerecht zurück. «Der Rosenbusch hat noch nie so schön geblüht», lobt die Asylbetreuerin ihn. Husseyni ist seit sechs Jahren in der Schweiz. Über die Situation in Afghanistan kann und will er nicht sprechen. Seine Augen drücken aber seinen Schmerz aus. Zu leuchten beginnen sie, als der «Reussbote» ihn fragt, was er für Hobbys hat. Fussball ist seine Passion. Viel braucht es dazu nicht. Auch auf seiner Flucht in den Flüchtlingslagern im Ausland, konnte er beim Spiel abschalten. Das macht er auch heute noch. Hinter der Turnhalle im Dorf befindet sich ein asphaltierter Platz mit zwei kleinen Toren. Hier spiele er gerne mit seinen Kollegen. Manchmal komme auch jemand aus dem Dorf dazu. Auf den Fussballrasen dahinter dürfe man nur mit Fussballschuhen. «Fussballspielen macht Spass», sagt er. Sein Traum wäre es, im Verein zu spielen. Klare Vorstellungen hat er nicht nur im Fussball, sondern auch von seinem Leben. Sein grösster Wunsch ist die F- und später die B-Bewilligung zu erhalten. Auch für ihn ist es essentiell zu arbeiten, um sich später eine eigene Wohnung zu finanzieren. Er kann sich vorstellen, langfristig beim Verteilzentrum zu arbeiten. In den Pausen spreche er mit seinen Kollegen. Eine Verständigung sei trotz der verschiedenen Kulturen kein Problem. Wenn er genügend Geld hätte, würde er gerne einmal mit einer Seilbahn auf einen Berggipfel fahren.

Einkaufen, putzen und kochen
Nebst dem Arbeiten, müssen die jungen Männer für sich selbst sorgen. Um das Budget zu schonen, fahren sie meist einmal pro Woche mit dem Bus in den Lidl oder Aldi nach Wohlen. Gut sei auch, dass der Arbeitgeber einmal pro Woche Lebensmittel abgebe, die zu einem reduzierten Preis gekauft werden können. Pro Person gibt es ein Produkt. Da heisse es schnell sein. Alle können zur gleichen Zeit in den Raum. Auf der einen Seite habe es Fleischprodukte, auf der anderen Seite Gemüse. Das Gemüse sei günstiger. Meist koche im Asylzentrum jeder für sich. Am Wochenende kann es auch sein, dass drei bis vier zusammen kochen. Ganz selten hätten sie auch vor der Unterkunft mit Steinen eine Feuerstelle gebaut, den Backofenrost draufgelegt und dann gegrillt. Einen eigenen Grill besitzen die Männer nicht. Ebenfalls angesagt ist der Hauskehr. «Nicht alle Bewohner sind sich das gewohnt.», sagt Gilliana Steffen. Sie schaut deshalb, dass die Reinigungsarbeiten in der Unterkunft gerecht aufgeteilt sind und diese auch ausgeführt werden. So können Reibereien verhindert werden. Sie schaut mindestens zwei Mal pro Woche beim Asylzentrum in Niederwil vorbei. Wenn ein Problem dazwischen ansteht, können sich die Asylsuchenden bei ihr im Whatsapp-Chat melden. Meist seien die jungen Männer aber sehr selbstständig. Bei ihren Besuchen bringt sie auch die Post mit und hilft ihnen bei der Administration. Sobald die Asylsuchenden arbeiten, müssen sie einen Teil an die Krankenkasse und an die Miete der Unterkunft bezahlen. Damit sie ihre Ausgaben im Griff haben, hilft ihnen Steffen mit dem Budget.
«Das Zusammenleben in der Unterkunft ist gut», sagen Kazemi und Husseyni. Nach der Arbeit werde oft zusammengesessen, diskutiert oder zu viert Karten gespielt. In der Unterkunft wohnen Männer ab 18 Jahren.

Debora Gattlen

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