«Wir wollen keine Angst verbreiten»
04.09.2020 Mellingen, Region ReusstalIm Trinkwasser sind zu viel Abbauprodukte des Fungizids Chlorothalonil festgestellt worden
Mellingen hat sein Trinkwasser im Juni untersuchen lassen. Die Werte hätten einen «einwandfreien Befund» ergeben, teilte die Gemeinde daraufhin mit. Doch im gleichzeitig ...
Im Trinkwasser sind zu viel Abbauprodukte des Fungizids Chlorothalonil festgestellt worden
Mellingen hat sein Trinkwasser im Juni untersuchen lassen. Die Werte hätten einen «einwandfreien Befund» ergeben, teilte die Gemeinde daraufhin mit. Doch im gleichzeitig veröffentlichten Prüfbericht ist ganz klar von überschrittenen Höchstwerten die Rede. Wie passt das zusammen?
Das Trinkwasser in Mellingen ist bedenkenlos konsumierbar und uneingeschränkt für die Herstellung von Babynahrung oder Lebensmitteln geeignet. Die Qualität ist dementsprechend gut», verteidigt Beat Deubelbeiss, Gemeindeschreiber von Mellingen, die Grundaussage der veröffentlichten Medienmitteilung. Für ihn zählt das Gesamtergebnis: «Das ist wie bei einem Zeugnis. Die meisten Noten sind sehr gut. Nur eine Bewertung ist ungenügend.»
Mittel gegen Pilzbefall
Für die eine schlechte Note, wie er es nennt, haben Chlorothalonil-Rückstände des Typs R471811 gesorgt. Chlorothalonil ist ein Pestizid, dass seit den 1970er-Jahren gegen Pilzbefall eingesetzt wird, etwa im Kartoffel-, Gemüseund Getreideanbau, aber auch im Rebbau oder auf Golfplätzen. Die daraus entstehenden Abbauprodukte werden als krebserregend verdächtigt. Darum hat das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) Chlorothalonil seit dem 1. Januar verboten und den Grenzwert für alle Abbauprodukte von Chlorothalonil um den Faktor 100 gesenkt.
Diese neue Ausgangslage bedeutete nicht nur für Gemeinden, sondern auch für Labore eine Herausforderung. Die Problematik ist einerseits so neu, dass noch vor einem Jahr Rückstände des Typs R471811 gar nicht getestet werden konnten. Auf der anderen Seite bestreiten Pestizid-Hersteller wie Syngenta die Gefährlichkeit dieser Abbauprodukte grundlegend. Das BLV verunsichere die Bevölkerung unnötig, sagt das Unternehmen, welches derzeit vor dem Bundesverwaltungsgericht gegen das Verbot streitet. Für Syngenta ist unverständlich, wie ein etabliertes Produkt plötzlich verteufelt wird. Schliesslich gingen bis zu 66 Tonnen des Fungizids pro Jahr über den Ladentisch; Chlorothalonil gehörte jahrelang zu den meist verkauftesten Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffen der Schweiz.
Und der erlaubte Höchstwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter Wasser ist erwiesenermassen unglaublich niedrig angesetzt. Ein Journalist des Portals «Watson» hat diesen mit der von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) erlaubten Tagesdosis Chlorothalonil verglichen, welche 0,015 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht beträgt. Fazit: Er könnte sein Leben lang jeden Tag 13 500 Liter Wasser trinken, ohne gesundheitliche Schäden fürchten zu müssen. Das entspricht ungefähr der Füllmenge von 100 Badewannen.
Wie gefährlich ist das Zeug also?
Jetzt liegen erstmals kantonsweite Messungen vor. 780 Proben untersuchte die kantonale Lebensmittelkontrolle im Aargau, mit dem Ergebnis, dass 67 Prozent der Wasserversorger von einer Höchstwertüberschreitung in einer oder mehreren Trinkwasserfassungen betroffen sind. Rund 420 000 Aargauer Konsumentinnen und Konsumenten werden so derzeit mit Trinkwasser versorgt, das bezüglich R471811 eine ungenügende Wasserqualität aufweist. In der gesamten Schweiz müssen es Millionen sein. Laut dem Bundesamt für Umwelt ist in mehr als der Hälfte der Kantone die Grundwasserqualität «erheblich beeinträchtigt».
Doch die Lebensmittelkontrolle stellte ebenfalls fest: «Eine Höchstwertüberschreitung bedeutet nicht, dass eine unmittelbare Gesundheitsgefährdung besteht.»
In Mellingen untersuchten die Chemiker Proben der Grundwasserpumpwerke Gheidrain und Esp sowie des Quellpumpwerks Himmelrich. Im Himmelrich stellten die Chemiker mehr als das Doppelte des erlaubten Höchstwertes von 0,1 Mikrogramm pro Liter fest. Im Esp war es mehr als das Vierfache. Die Rückstände des Typs R417888, die bereits 2019 zum ersten Mal gemessen wurden, zeigten positivere Zahlen. Sie liegen unverändert leicht unter dem Höchstwert.
Pestizidwert zu hoch
Gesamthaft gesehen jedoch befinden sich im Mellinger Wasser, unter Berücksichtigung der Messunsicherheit, mehr Pestizide als erlaubt. Auch die mikrobiologische Qualität wurde untersucht – hier ist das Ergebnis tatsächlich so, wie die Gemeinde es in ihrer Medienmitteilung auf das gesamte Ergebnis projiziert: «einwandfrei».
Gemeinde räumt Problem ein
«Wir befinden uns in einer kniffligen Situation», rechtfertigt sich Deubelbeiss. «Wir müssen der Bevölkerung klar machen, dass das Wasser bedenkenlos in Ordnung ist. Trotzdem besteht Handlungsbedarf. Das ist schwer zu verstehen. Wir wollen keine Angst verbreiten.»
Weil es Jahre bis Jahrzehnte dauern kann, bis Stoffe wie die Rückstände des Typs R471811 von allein aus dem Wasser verschwinden, fordert das BLV betroffene Gemeinden dazu auf, Massnahmen zu prüfen, um bis Herbst 2021 nur noch wirklich einwandfreies Wasser abzugeben.
Doch welche Möglichkeiten gibt es? Darauf weiss auch Deubelbeiss keine Antwort. Denkbar wäre, das Wasser aus den verschiedenen Entnahmestellen so zu mischen, dass die Werte sinken. Neben den drei erwähnten Orten bezieht Mellingen auch Wasser von Baden und Wohlenschwil. Während in Baden ebenfalls Überschreitungen entdeckt wurden, seien ihm aus Wohlenschwil keine entsprechenden Daten bekannt. «Das ist also nicht so einfach realisierbar», erklärt der Gemeindeschreiber. Aktuell kläre man darum ab, ob man sich am Projekt Wasser 2035 beteiligt. 23 Gemeinden wollen sich in diesem Projekt zu einer Ringleitung zusammenschliessen und Wasser aus dem Grundwasserbecken Niederlenz das Bünztal hinauf und das Reusstal wieder hinunter transportieren. Dieser Ringschluss mit verschiedenen Wasserversorgungen soll vor allem die Trinkwasserversorgung gewährleisten.
Nach Lösungen wird geforscht
Möglicherweise wären in einer solchen Ringleitung auch technische Massnahmen in einem verhältnismässigen Umfang machbar – Massnahmen, wie sie derzeit am Wasserforschungsinstitut der ETH Zürich EAWAG erforscht werden. Etwa Absorption in Aktivkohle: Dabei müsse laut EAWAG die Kohle jedoch sehr häufig ausgetauscht werden, was den Betrieb kostspielig mache. Am besten eigne sich ein Verfahren, bei dem Rohwasser durch eine Membran gepresst wird, welche Salze und organische Mikroverunreinigungen entfernt. Dummerweise gehen so auch alle Mineralien verloren. Das Wasser muss danach mit mineralhaltigem Wasser gemischt werden. Übrig bleibt ausserdem ein mit Pestiziden verunreinigtes Konzentrat, welches bis zu 20 Prozent des Ausgangsvolumens beträgt und über dessen weitere Verwendung bei Experten keine Einigkeit besteht. Es wieder zurück ins Grundwasser leiten, erscheint wenig zweckmässig.
Gängige Verfahren wirken nicht
Mit gängigen Prozessen, etwa der sogenannten «UV-Desinfektion», wie sie in Mellingen bereits zum Einsatz kommt, lässt sich der Chlorothalonil-Rückstand des Typs R471811 jedenfalls nicht entfernen.
«Sobald wirksame Verfahren bekannt sind, werden wir deren Einsatz prüfen», verspricht Deubelbeiss. «Denn wir nehmen das Problem ernst. Aber momentan können wir nur warten, immer wieder prüfen und hoffen, dass die Werte sinken. Und die wichtigste Massnahme ist ja bereits umgesetzt: das Verbot von Chlorothalonil.»
Stefan Böker


