«Es gibt Männersachen und Frauensachen»
29.01.2021 SozialesFrauenstimmrecht: In der Region stimmten die Männer in den meisten Gemeinden konservativ, Interessantes und Überraschendes gibt es dennoch
Die Nein-Stimmen waren im Reusstal in der Mehrheit. Wie das «Nein» zu verstehen ist, erklärt Toni Merki am Beispiel seiner ...
Frauenstimmrecht: In der Region stimmten die Männer in den meisten Gemeinden konservativ, Interessantes und Überraschendes gibt es dennoch
Die Nein-Stimmen waren im Reusstal in der Mehrheit. Wie das «Nein» zu verstehen ist, erklärt Toni Merki am Beispiel seiner Eltern. Dass es auch früh viele Pionierinnen gibt, zeigt das Beispiel von Marlies Haller.
Das Eidgenössische Frauenstimm- und -wahlrecht wird am 7. Februar 1971 in der Schweiz angenommen. Vor gerade mal 50 Jahren. Nach einer ersten Abstimmung 1959 (siehe Kasten «Schneckentempo») kam es 1971 zu einem zweiten Anlauf. Grund: der Bundesrat wollte 1968 die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnen – mit einem Vorbehalt zu den politischen Rechten von Frauen. Der Bundesrat erntete für diesen Vorbehalt lautstarken Protest von Frauenverbänden und musste daraufhin sein Vorhaben revidieren und erneut eine Abstimmungsvorlage für das Frauenstimmrecht ausarbeiten.
Wie der «Reussbote» vor dieser zweiten Abstimmung schreibt, schienen sich aber zumindest die politischen Parteien im Aargau einig gewesen zu sein: Alle haben die Ja-Parole beschlossen, sowohl auf eidgenössischer als auch auf kantonaler Ebene. «Mehr oder minder herzhaft», schrieb kommentierend dazu der Chronist. Es gebe nämlich noch einige «Herren der Schöpfung, die sich, auch oft aus achtbaren Gründen, nicht für das politische Engagement der Frauen erwärmen können. Trotzdem ist zu sagen, dass das allgemeine Erwachsenenstimmrecht überfällig wäre.»
Im «Reussbote» wird im Vorfeld für und gegen das Frauenstimmrecht geworben: «Für unsere Frauen ein herzliches Ja» empfiehlt etwa das Berner Aktionskomitee für das Frauenstimmrecht und meint «Traditionsbewusst und doch fortschrittlich gegenüber Neuem – so denken und handeln unsere Frauen. Sie sind in allen Lebensbereichen Partnerinnen geworden.» Andere rufen zum «selbstverständlichen Ja» auf, weil «Frauen mittragen: Mehr und mehr werden sie in öffentliche Aufgaben und Ämter berufen. Ihre Leistungen dürfen sich sehen lassen.» Das Gegenteil empfiehlt in seinem Inserat der Bund der Schweizerinnen gegen das Frauenstimmrecht: «Weitblickende Männer stimmen zur Einführung des Frauenstimmrechtes Nein, weil sie wissen, dass die Mehrheit der Frauen dagegen ist.»
«Meistens sind wir uns einig, aber …»
So, wie sich politische Parteien und Verbände zu einem Ja durchgerungen hatten, geschieht die Auseinandersetzung auch in den guten Stuben. Da konnten sich Eheleute durchaus uneins sein. Davon erzählt etwa Regina Haller, Tochter der ehemaligen Stetter CVP-Politikerin Marlies Haller. Das väterliche Nein zum Frauenstimmrecht hatte bereits 1959 «zum Krach» zwischen dem Ehepaar Marlies und Hans Rudolf Haller geführt. Als dieses Recht 1971 erneut am Familientisch diskutiert wurde, soll Haller gegenüber seiner Frau gemeint haben, er werde Nein sagen, sie seien sich in politischen Fragen ohnehin immer einig. «Das stimmt», soll Marlies Haller ihm geantwortet haben, «in den meisten Angelegenheiten sind wir uns einig. Was das Frauenstimmrecht anbelangt, hätte ich 1959 aber anders abgestimmt als du, und das ist heute nicht anders als damals!» Regina Haller erzählt: «Unser Vater hat daraufhin entgegnet, dass das Stimmrecht, sollte sie denn eines Tages für ein politisches Amt angefragt werden, auch mit Verantwortung verbunden sei».
Die Meinung seiner Frau hingegen habe er respektiert, sagt die Tochter: «Er hat ein Ja in die Urne gelegt.» In Stetten war Hans Rudolf Haller damit in der Minderheit: 52 Männer schrieben Ja auf ihren Stimmzettel, 90-mal lautete das Verdikt Nein.
Rohrdorferberg sagt Ja, das Tal Nein
Ebenso deutlich wie Stetten lehnten auch Birmenstorf oder Tägerig ab (siehe Tabelle, Abstimmungsresultate Frauenstimmrecht, 1971). Ein klares Nein auch in Birrhard, Fischbach-Göslikon, Künten, Mägenwil, Niederwil oder Wohlenschwil. Überaus knapp fiel das Nein in Fislisbach und in Mellingen aus. Ja sagten einzig die Gemeinden am Rohrdorferberg: Bellikon, Niederrohrdorf, Oberrohrdorf und auch Remetschwil.
Warum die Gemeinden am Berg, die sogenannten «Ingenieursdörfer», eine Ja-Mehrheit zustande brachten, während kleinere, landwirtschaftlicher geprägte Gemeinden das Frauenstimmrecht hochkant ablehnten, ist kaum im Detail zu erklären. War am Berg der Einfluss der international tätigen BBC stärker? Der Chronist im «Reussbote» meint, mit Blick auf den ganzen Kanton: «Den Ausschlag gegeben haben die bevölkerungsreichsten und eher städtischen Bezirke Aarau, Baden, Brugg, Rheinfelden und Zofingen.» In ländlichen und in Dorfbezirken sei man dem Frauenstimmrecht «nicht sehr gewogen» gewesen. Das gelte für ausgesprochene Bauerndörfer genauso wie für stark industrialisierte Orte. «Die aargauische Abstimmungsgeografie zeigt, dass in weniger bevölkerungsdichten Gegenden die patriarchalischen politischen Vorstellungen noch am stärksten sind.»
Den Zeitgeist nicht unterschätzen
Einstellung, Gedanken oder Gefühle beeinflussen Entscheidungen. Das betont auch Heidi Pechlaner Gut, Historikerin und Kuratorin beim Historischen Museum in Baden und aufgewachsen in Stetten: «Der damalige Zeitgeist darf nicht unterschätzt werden, der Einfluss der Stimmen vom Stammtisch, Männerbünde, in manchen Familien auch die Angst vor dem Verlust von Heim und Herd.» Vielen Frauen fehlten zudem Netzwerke, ergänzt sie, die Männer hingegen fürchteten umgekehrt ihre eigenen Netzwerke zu verlieren.
Im Herbst 2018 hatte das Historische Museum Baden eine Ausstellung zu «Aufbruch 68/71: Love, Peace und Frauenstimmrecht» gezeigt. Pechlaner Gut erzählt, dass sie als Kuratorin im Vorfeld dieser Ausstellung Männerstimmen gesucht habe, die 1971 Nein gesagt hatten. Sie habe in Alterszentren nachgefragt und festgestellt «Niemand will sich heute noch dazu bekennen, dass er 1971 den Frauen das Stimmrecht verweigert hatte.» Pechlaner Gut wertet es insofern als positives Zeichen, dass diese Haltung 50 Jahre später nicht mehr zeitgemäss erscheint und daher häufig ein Mantel des Schweigens darüber gelegt wird. Das aber hat gedauert. Sie habe als junge Frau noch erlebt, erzählt Heidi Pechlaner Gut, wie in einem Mellinger Restaurant aus dem Kafi «Zwätschge» das Kafi «Uchtenhagen» wurde. Die SP-Nationalrätin Lilian Uchtenhagen hatte 1983 als erste Frau für den Bundesrat kandidiert. Gewählt wurde damals aber Otto Stich.
Toni Merkis Eltern waren dagegen
Viele, die 1959 oder 1971 ihren Stimmzettel eingeworfen haben, sind längst verstorben. Auch die Eltern von Toni Merki, alt Gemeindeammann in Oberrohrdorf. Merkis Eltern waren sich, anders als die Hallers in Stetten, punkto Frauenstimmrecht einig: Beide waren dagegen. Der alt Gemeindeammann beschreibt, wie diese Haltung im Kontext verstanden werden kann: «In unserer Familie war eine patriarchalische Atmosphäre. Das war in jener Zeit der Normalfall. Der Vater bestimmte über uns alle, was für uns selbstverständlich war.
Als Jüngster von neun Geschwistern erlebte ich eine glückliche Jugend, wohlbehütet. Ich erlebte aber auch, dass meine älteren Geschwister ab einem gewissen Alter etwas aufmüpfig wurden, Vaters Meinung plötzlich angezweifelt wurde und auch heftige Diskussionen auslöste. Vor allem meine älteren Brüder stritten sich oft mit meinem Vater über seine Ansichten in der Politik. Vater war katholisch konservativ, und hat viele Parteiversammlungen in Baden besucht. In der Gemeinde war er lange Zeit in der Schulpflege und in der Kirchgemeinde in der Kirchenpflege. Seine Ansicht zum Frauenstimmrecht war uns sattsam bekannt – Politik ist Männersache. Das war auch keine Streitfrage zwischen der Mutter und ihm: Beide waren dieser Meinung, es gibt Männersachen und Frauensachen. Die Frau gehört an den Herd, Punkt. So war es übrigens auch bei unseren Nachbarn.
Für meine Mutter war es selbstverständlich, dass der Vater den Geldsäckel hatte, und sie ihn fragen musste, wenn sie etwas für sich oder die Kinder kaufen wollte. Ich glaube kaum, dass sie darunter gelitten hatte. So war es auch selbstverständlich, dass alle Kinder dem Vater ihren Lohn abgaben, bis sie 20-jährig waren. Meine älteste Schwester fand das im 18. Altersjahr nicht mehr nötig, und musste nach langen Streitereien ausziehen. Sie fand Unterkunft in einer befreundeten Familie.
Der Vater ist bereits vor der Abstimmung zum Frauenstimmrecht 1971 gestorben. Von der Mutter weiss ich, dass sie mit dem Stimmrecht nie etwas anfangen konnte. Ich erinnere mich an ihre Aussagen über Frauen in der Politik: «Die würde auch gescheiter daheim etwas Rechtes kochen» oder als es auch in der Kirche zu tauen anfing, kam sie etwa am Sonntag heim vom Gottesdienst, wo eine Frau eine Lesung gehalten hatte und mein te: «Wahrscheinlich bekommen die heute nichts zum Mittagessen» oder «Die hat auch wieder gar einen kurzen Rock getragen, findest du nicht auch?» Wir Söhne fanden das zwar auch, hatten aber Freude daran.
«Später war unsere Mutter überglücklich, als sie die AHV ausbezahlt bekam, jeden Monat. Selber Geld haben und damit kaufen, was sie wollte, das war das Grösste! Bei einem Besuch zeigte sie mir einmal einen Brief, den sie an die AHV geschickt hatte und sich darin herzlich bedankte, für das Geld, das sie immer so pünktlich erhalte. Das hat mich schon ein wenig berührt. Die Empfänger sicher auch: Unsere Mutter, die zehn Kinder aufgezogen hatte, die mit der grossen Kinderschar und dem Bauernhof oft allein war, etwa während des Zweiten Weltkrieges, weil der Vater an der Grenze stand. Sie, die immer fleissig war im Haushalt, im Garten und auf dem Feld – und dann so dankbar, als sie eine Altersrente bekam. Es war für sie keine Selbstverständlichkeit.
Vater und Mutter waren also Gegner des Frauenstimmrechts, weil sie das nicht nötig fanden. Beim Vater war es sicher keine Bösartigkeit: Es war einfach gut so, wie es war. Aber, und davon bin ich fest überzeugt, ihre vier Söhne haben 1971 bei der Abstimmung für das Frauenstimmrecht ein überzeugtes Ja eingelegt und ihren vier Frauen und sechs Schwestern das längst fällige Stimmrecht ermöglicht. Und das ist doch auch etwas.»
Der Aargau hat 1971 Ja gesagt
Wie auch immer jeder Einzelne 1971 abgestimmt hatte, Fakt ist, nach Auszählung aller Zettel in allen Gemeinden: Der Aargau hat das Frauenstimmrecht auf kantonaler und nationaler Ebene angenommen.
Der «Reussbote» schreibt einen Tag nach der Abstimmung: «Inbezug auf das Frauenstimmrecht war man besonders auf den Aargau gespannt, der vielleicht sogar das Zünglein an der Waage spiele, und zwar in doppelter Beziehung: Einmal könnte sein eventueller Nein-Überschuss stimmenmässig zu einer gesamteidgenössischen Verwerfung beitragen, viel eher aber dafür sorgen, dass das Ständemehr nicht erreicht würde.»
Mit der gewonnenen Abstimmung aber konnten die Schweizerinnen auf allen Ebenen in der Politik mitbestimmen. Was uns zurück führt zu Marlies Haller, die in den späten 1970er-Jahren in Stetten bereits als Schulpflegerin tätig war. Sie wurde Anfang der 1980er-Jahre tatsächlich von der CVP als Gemeinderätin angefragt. Das heisst, gefragt wurde zunächst ihr Mann. Er aber lehnte ab und brachte stattdessen seine Frau ins Spiel.
Haller: Gemeinderätin in Stetten
Marlies Haller nahm die Herausforderung an und wurde 1982 als erste Frau in Stetten in den Gemeinderat gewählt, zuständig für Schule und Kultur. Im Männergremium musste sie sich anfänglich gegen Vorbehalte behaupten. «Meine Mutter war eine pragmatische, eine selbstbewusste Frau», sagt dazu jedoch Regina Haller. Der Gemeinderat habe sich rasch an die neue Situation gewöhnt. Von 1993 bis 1997 war Marlies Haller für die CVP im Aargauer Grossen Rat.
Seither haben viele Frauen in der Region den Weg in die Politik gewählt – dazu eine Aufzählung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Christine Egerszegi, FDP alt Nationalrätin, Nationalratspräsidentin und alt Ständerätin; Ruth Humbel, CVP-Nationalrätin; Edith Saner, CVP-Grossrätin und 2020 auch Grossratspräsidentin. Zahlreiche Grossrätinnen waren und sind für Gemeinden und Bezirk im Kantonsparlament. Hedy Zehnder war 1981 in Niederrohrdorf die erste Gemeinderätin, Claudia Faber, in Oberrohrdorf, von 1988 bis 1993 die erste Frau Gemeindeammann im Bezirk Baden. Sehr viele Frauen nahmen und nehmen heute als Gemeinderätinnen ihre politische Verantwortung wahr.
Heidi Hess
Im Schneckentempo
«Am 7. Februar 1971 – 53 Jahre nach Deutschland, 52 Jahre nach Österreich, 27 Jahre nach Frankreich und 26 Jahre nach Italien – führt die Schweiz das Wahl- und Stimmrecht für Frauen ein.» So steht es auf der offiziellen Webseite der Bundesversammlung.
Frauen und Frauenverbände haben für dieses Recht mehr als hundert Jahre lang gekämpft. Die Zürcherinnen erstmals bei der kantonalen Verfassungsrevision 1868, vergeblich damals. 1918 wurden im Nationalrat zwei Motionen eingereicht, beide verschwanden in Schubladen. 1957 legte der Bundesrat einen Entwurf zur Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts vor. Die Vorlage wurde von National- und Ständerat angenommen, nicht aber von den stimmberechtigten Schweizer Männern: Sie sagten 1959 mit 654 939 (66,9 Prozent) Stimmen Nein. Gerade mal 323 727 Männer (33 Prozent) hatten Ja gesagt. Noch tiefer lag der Ja-Anteil im Aargau: 22 Prozent der Aargauer Männer hatten 1959 ein Wahl- und Stimmrecht für Frauen befürwortet. (hhs)