«Wir leben mit Julia im Jetzt»
26.03.2021 Niederrohrdorf, Region RohrdorferbergGesucht sind Pflegefamilien; Nina Dreier-Barske erzählt von ihrer Motivation und ihren Erfahrungen
Eine kleines Mädchen braucht eine Pflegefamilie. Nina Dreier-Barske erzählt, warum sie die Verantwortung übernimmt und was das für sie, für die Familie und ...
Gesucht sind Pflegefamilien; Nina Dreier-Barske erzählt von ihrer Motivation und ihren Erfahrungen
Eine kleines Mädchen braucht eine Pflegefamilie. Nina Dreier-Barske erzählt, warum sie die Verantwortung übernimmt und was das für sie, für die Familie und für das Mädchen bedeutet.
In einem hübschen Haus, in einem hübschen Quartier sitzt Nina Dreier-Barske am Esstisch und erzählt. Sie erzählt, wie es dazu kam, dass seit einigen Monaten ein kleines Mädchen von Sonntagabend bis Samstagmorgen den Alltag ihrer Familie gestaltet und mitbestimmt, ihn bisweilen auch auf den Kopf stellt. Die Kleine sitzt währenddessen am Boden, greift nach bunten Spielsachen, manchmal gluckst und plaudert sie. Sie wirkt, während Nina Dreier ihre Worte mit Bedacht wählt, zufrieden. Sandra Maurer, Sozialpädagogin bei der Fachstelle Pflegekind Aargau, hat ein Auge auf das zehn Monate alte Kind, damit Dreier ungestört reden kann.
«Julia hat einen herzigen Humor»
Als sie im November ihre Pflegefamilie kennenlernte, war Julia* ein halbes Jahr alt. Seither sind knapp vier Monate vergangen. Pflegekind und Pflegefamilie haben sich aneinander gewöhnt. «Ich kann sie lesen und dann auf sie eingehen», sagt Nina Dreier. Es sei schön, wie sich Julia freue, wenn sie sich sehen würden. Sie reagiere auf die ganze Familie mit Lachen und Strahlen. Sie könnten zusammen plaudern: «Julia hat Humor und einen herzigen Schalk.» Der Alltag mit der Kleinen verlaufe «harmonisch», so Dreier. Diese Harmonie aber musste sich erst entwickeln. In den ersten Wochen hätten beide nicht so gut geschlafen, nicht das Pflegekind, nicht die Pflegemutter. «Ich wusste nicht mehr», sagt Nina Dreier, Mutter eines inzwischen vierjährigen Jungen, «was es bedeutet, für ein Baby zu sorgen.»
Heute hat sich Vieles eingespielt. «Es geht gut, sehr gut sogar», sagt Dreier. Es habe von Anfang an auf beiden Seiten «Klick» gemacht. An Julia gewöhnt hat sich auch ihr Sohn, der mit der Zeit eifersüchtig auf das Baby reagiert hatte, schlechter schlief und auch Trennungsschwierigkeiten zeigte. «Aber», sagt die Mutter, «es wird besser». Es sei ihr wichtig, dass sich die beiden nicht ständig ins Gehege kommen. «Ich muss schlichten, beruhigen und auch mal um- und ablenken.» Solche Konflikte unter Pflegegeschwistern seien aber normal, werde ihr gesagt. Das sei auch bei Eltern, mit eigenen Kindern ein wiederkehrendes Thema. Die Psychotherapeutin, die ihr Arbeitspensum angepasst hat, fragt sich dennoch: «Ist es wirklich das Gleiche?»
Stabilität in einer sensiblen Phase
Wie die Kinder trotz Altersunterschied aneinander Freude haben können, ist im Alltag ersichtlich. Wenn Julia zum Beispiel auf dem Rücken ihres Sohnes «reiten» dürfe, dann würden beide lachen und hätten grossen Spass miteinander.
Wie lange Julia bei den Dreiers bleiben wird, ist ungewiss. «Mein Mann und ich wussten, dass es sich um ein kurzfristiges Engagement handeln könnte.» Vielleicht bis Frühling, vielleicht bis in den Herbst? «Wir leben mit Julia im Jetzt», sagt dazu Dreier, «wir geben ihr in einer sensiblen Phase Stabilität.» Mit der neuen Situation würden sie sich befassen, wenn sie da sei. Dabei hatte sich die Familie Dreier im Februar 2020 bei der Fachstelle Pflegekind Aargau bewusst für ein Kind beworben, das einen Dauerplatz erhalten sollte. Das kann gemäss Fachstelle aber nicht immer garantiert werden. Die Dreiers hatten ein Motivationsschreiben eingereicht, ihr Dossier abgegeben. Ein halbes Jahr und verschiedene Abklärungen später hatten sie von der Fachstelle den Bescheid erhalten, dass sie als Pflegefamilie in Frage kommen würden. Ihr Mann und sie, erklärt Nina Dreier die Beweggünde, hätten die Ressourcen dafür und genügend Platz; sie würden Lebenserfahrung mitbringen und fühlten sich fähig, ein Kind gemäss seinen persönlichen Bedürfnissen zu fördern.
Verantwortungsgefühl ist gross
Als die Fachstelle Pflegekind Aargau dann einen Platz für Julia suchte, musste das Paar innert kürzester Zeit einen Entscheid fällen. «Wir hatten gerade mal eine Woche Zeit», sagt Dreier. Dass eine Platzierung so schnell vonstattengehe, erklärt die Fachmitarbeiterin der Fachstelle Pflegekind Aargau, sei eher ungewöhnlich. Wann immer möglich sei es wichtig, dass sich die Beteiligten Zeit für den Eingewöhnungsprozess nehmen können. Während dieses – zeitlich festgelegten – Prozesses ist eine Absage von beiden Seiten her noch möglich. Nina Dreier sagt, sie habe das kleine Mädchen täglich im Heim besucht – mit und ohne Begleitung ihres Sohnes oder ihres Mannes. Die Kleine habe sich gefreut, wenn sie gekommen seien. Parallel dazu hätten sie zu Hause das Babyzimmer vorbereitet.
Heute ist Julia unter der Woche bei den Dreiers in Niederrohrdorf, Samstag und Sonntag verbringt sie bei ihren leiblichen Eltern. «Wir finden uns dann als Familie zu dritt wieder», sagt Nina Dreier, deren Verantwortungsgefühl für Julia so gross ist, dass sie manchmal auch an Wochenenden aufschreckt, weil sie glaubt, Julia nicht ins Bett gebracht zu haben.
Heidi Hess
*Name von der Redaktion geändert
Pflegefamilie gesucht
Einfach Kind sein dürfen: Nicht alle Kinder haben das Glück in stabilen Familienverhältnissen aufzuwachsen. In der Schweiz leben an die 15 000 Pflegekinder. Die meisten kommen aus mehrfach belasteten Familienverhältnissen und haben bereits früh erfahren müssen, was Verlust bedeutet. Diese Kinder und Jugendlichen brauchen spezielle Zuwendung, Unterstützung und Beständigkeit. Der «Verein Pflegekind Aargau» mit Sitz in Baden vermittelt im Auftrag von Behörden ein familiäres Umfeld.
Im Zentrum steht dabei das Wohl des Pflegekindes. Die Fachstelle engagiert sich für die vielschichtigen Aspekte und Fragen in der Pflegekinderhilfe und unterstützt und berät die Pflegefamilien. Kinder, die nicht mehr in ihrem Elternhaus leben können, sollen innerhalb einer Pflegeplatzierung kontinuierliche Beziehungen, Sicherheit und eine adäquate Förderung in einem natürlichen Umfeld erhalten. Sie brauchen konstante Zuwendung von verständnisvollen, belastbaren Menschen, damit sie wieder Zutrauen zu sich und zum neuen Umfeld fassen können. Nur so haben sie die Chance, selbstständig und selbstbewusst dem Leben zu begegnen. Eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten ist die Tatsache, dass das Kind mit zwei Familien aufwächst und sowohl das Kind, abgebende Eltern aber auch Pflegeeltern auf professionelle Unterstützung angewiesen sind. (red.)