Wenn das Töff-Virus einen einmal gepackt hat
09.04.2021 Region ReusstalImmer mehr wollen Motorrad fahren – in den Fahrschulen sind die Kurse ausgebucht, rekordverdächtig viele Töffs wurden eingelöst
2020 war ein Rekordjahr, was die Lernausweise für Motorräder und deren Verkaufszahlen betrifft. Ein Grund ist sicher Corona. Der ...
Immer mehr wollen Motorrad fahren – in den Fahrschulen sind die Kurse ausgebucht, rekordverdächtig viele Töffs wurden eingelöst
2020 war ein Rekordjahr, was die Lernausweise für Motorräder und deren Verkaufszahlen betrifft. Ein Grund ist sicher Corona. Der andere eine Änderung der Vorschriften. Händler stehen dem Boom dennoch mit gemischten Gefühlen gegenüber.
Fahrlehrer Sandro Teufer von der Mellinger Fahrschule 69 macht sich keine Illusionen: Der Run auf seine Motorradkurse ist zwar noch nicht verebbt. «Aber spätestens ab Juli wird einen Gang runtergeschaltet.» Der Grund für die grosse Nachfrage ist eine Gesetzesänderung. Bis Ende 2020 konnte, wer über 25 Jahre alt war, direkt den Lernausweis für Motorräder ohne Leistungsbeschränkung lösen. Mit diesem sind noch in diesem Jahr Ausbildung und Prüfung möglich. Unter 25-Jährige, welche die Prüfung für Motorräder mit beschränkter Leistung bestanden hatten, konnten bislang nach zwei Jahren Fahrpraxis ohne Prüfung auf grosse Maschinen umsteigen. Auch damit ist ab Juni dieses Jahres Schluss.
Eigentlich wäre die Deadline der 1. Januar gewesen. Doch die Nachfrage machte den Strassenverkehrsämtern zu schaffen. Sie kamen mit den Prüfungen nicht mehr hinterher und verlängerten die Frist um ein halbes Jahr. Das Interesse sei 2020 um 50 Prozent höher gewesen als im Jahr zuvor, sagt der Leiter des Aargauer Strassenverkehrsamtes Johannes Michael Baer. Für Motorräder mit mehr als 125 cm³ Hubraum wurden insgesamt 6398 Lernausweise gelöst.
Auf den Strassen sieht man so viele Motorräder wie nie zuvor. Diese Wahrnehmung wird von den Zahlen des Bundesamts für Statistik bestätigt. Der Bestand an Motorrädern betrug im vergangenen Jahr schweizweit 771 586 Fahrzeuge. Das ist ein Zuwachs gegenüber dem Vorjahr von 27 044 – der grösste Anstieg der vergangenen zehn Jahre. Allein im Kanton Aargau sind 66 077 davon unterwegs.
Von den älteren Neulingen würden einige nicht dabei bleiben, ist sich Fahrlehrer Teufer indes sicher. «Die wollten das einfach mal ausprobieren und haben wegen der Frist nochmal Gas gegeben. Dass alle viel Zeit hatten wegen Corona, hat sicher auch mit hineingespielt.» Das sei aber okay, denn für ihn sei Motorradfahren mehr Lebensgefühl als Fortbewegungsart. Teufer ist im Reusstal gross geworden, sitzt seit über 40 Jahren im Sattel, seit 20 Jahren ist er Fahrlehrer und bietet als Tourguide auch Enduro- und Strassenfahrten an. Sein Sohn durfte schon mit vier Jahren auf dem Mini-Cross fahren. Der gelernte Motorradmechaniker vergleicht das Gefühl mit einem Virus. «Entweder es packt dich, oder es packt dich nicht. Und wenn es dich nicht packt, dann lass es lieber sein.» Das sage er allen seinen Schülerinnen und Schülern. Dies auch wegen der Sicherheit: «Wer nur einmal im Jahr den Töff aus der Garage holt, wird kein guter Fahrer.»
Änderung soll Sicherheit erhöhen
Es ist denn auch die Sicherheit, wegen der Sandro Teufer die Änderung der Vorschriften gutheisst. Viele würden sich blauäugig an den erforderlichen Motorradgrundkurs wagen und schlecht ausgerüstet, ohne Fahrpraxis, erscheinen. «Viele denken, das ist ein Anfängerkurs. Ist es aber nicht», sagt er. Der Grundkurs sei dazu da, verschiedene Aspekte zu vertiefen: etwa das Langsamfahren, eine Vollbremsung oder das Kurvenfahren. «Ich habe im vergangenen Jahr ungewöhnlich viele wieder heimschicken müssen», sagt der Fahrlehrer. Denn, auch wenn der Grundkurs keine Prüfung im eigentlichen Sinne ist, muss man dennoch die Kursziele erreichen. Auch Johannes Michael Baer vom Strassenverkehrsamt bestätigt den ausserordentlichen Mangel an Fahrpraxis bei den Prüflingen. Auf die Durchfallquote habe diese Tatsache aber keinen Einfluss ausgeübt.
Dass im vergangenen Jahr auf den Strassen ungewöhnlich viel Töffs unterwegs waren, sieht auch Bernhard Graser von der Kantonspolizei Aargau. Die Schweiz sei sowieso ein Töff-Land. Dass die Grenzen einige Zeit geschlossen waren und es dadurch auch nicht möglich war, beliebte Strecken im Ausland, etwa im Schwarzwald, zu fahren, habe sicher zur Zunahme beigetragen. Zu unsicheren Verkehrsverhältnissen habe das aber nicht geführt, wie die Statistik belegt: Die Zahl der Verkehrsunfälle ist auf einem Rekordtief. Nur einmal gab es seit den 60er-Jahren weniger Unfälle im Aargau als im 2020. Wer Motorrad fährt, lebt dennoch gefährlicher als andere Verkehrsteilnehmende: Aus 174 Motorradunfällen resultierten 115 Leichtund 57 Schwerverletzte. Das bedeutet, jeder dritte Motorradunfall hat schwere Folgen. Zwei Menschen starben deswegen. Dass so viele Fahrzeuge wie noch nie unterwegs sind, die Sicherheit dennoch gegeben ist, basiert laut Polizeisprecher Graser auf sinnvollen Verkehrsregeln, der polizeilichen Überwachung des Verkehrs und fortgeschrittener Technik.
Schwere Maschinen bringen Geld
Für Letztere lassen Motorradfans gerne Geld liegen – was auch die Händler freuen sollte. Die Gesetzesänderung hat ihnen einen Boom beschert. Trotz oder sogar wegen Corona verzeichneten sie ein Rekordjahr. Nachgefragt bei Nico Pouchon, Geschäftsführer von Moto Mader in Oberentfelden, herrscht in der Branche dennoch ein differenzierteres Bild: «10 bis 20 Prozent des Marktvolumens machen Käuferinnen und Käufer aus, die direkt in die höchste Klasse einsteigen», sagt Pouchon. «Diese fallen in Zukunft weg». Zwar dürfen neu 16-Jährige schon 125er-Maschinen fahren. Jedoch seien diese Fahrzeuge sehr günstig im Verhältnis. «Damit wird unser Deckungsbeitrag auf lange Sicht deutlich sinken», gibt er zu bedenken.
Stefan Böker