«Finde die Situation sehr bedauerlich»
18.05.2021 Region ReusstalPestizid- und Trinkwasserinitiative spalten Landwirte – Befürworter werden unter Druck gesetzt
Es gibt im Verbreitungsgebiet des «Reussbote» Bio-Bauern, die am 13. Juni bei beiden Agrarinitiativen ein überzeugtes «Ja» in die Waagschale werfen werden. Aber ...
Pestizid- und Trinkwasserinitiative spalten Landwirte – Befürworter werden unter Druck gesetzt
Es gibt im Verbreitungsgebiet des «Reussbote» Bio-Bauern, die am 13. Juni bei beiden Agrarinitiativen ein überzeugtes «Ja» in die Waagschale werfen werden. Aber öffentlich für die Abstimmung werben? Das wollen sie nicht. Die Anfeindungen der Gegner sind hart.
Besuch bei einem Bio-Bauern in der Region. Der Mann steht zufrieden in seiner Remise vor seinem grossen Traktor. In einer Tonne gluckert leise Komposttee. Auf seinem Betrieb würde sich durch die Annahme von Trinkwasser- und Pestizidinitiative nichts ändern, sagt er. «Ich sehe diese Initiativen als Chance. Eine Veränderung in der Agrarwirtschaft ist schon lange notwendig.» Aber er verstehe Bauern, die sich deswegen Sorgen machen. Weil die Vorgaben nicht in allen Bereichen umsetzbar seien. «Wenn du einen Mastbetrieb für Poulets hast mit 20 000 Tieren, dann wird das schwierig.»
«Es geht um viel Geld»
Es gehe um viel Geld, deswegen werde der Ton der Gegner immer schärfer. «Angstmacherei», seien viele ihrer Argumente. Und Druck werde aufgebaut: Er habe schon mitbekommen, wie Befürworter der Initiative als Verräter abgestempelt wurden. Deswegen würden sie lieber nichts sagen. Sie wollen im Dorf nicht geschnitten werden. Er stammt aus einer alteingesessenen Bauernfamilie. Auch innerhalb der Familie gibt es Meinungsunterschiede.
Dann wird fotografiert. Der Mann hat nichts dagegen, er beteiligt sich freiwillig öffentlich am Abstimmungskampf für die Trinkwasserinitiative, weil er sie für sinnvoll hält. Selbstbewusst steht er vor seinem Feld.
Zwei Tage später der Anruf. Bitte doch kein Foto bringen, bitte doch keinen Namen nennen. Am besten gar nichts schreiben.
Landwirte bleiben still
Damit springt der letzte Landwirt, der sich gegenüber dem «Reussbote» öffentlich als Befürworter äussern wollte, auch noch ab. Anfragen in den Tagen zuvor, egal ob beim Bio-Bauern, beim Nitratobmann, oder beim Fischerverein – von allen gab es von vornherein dieselbe Antwort: «Dazu sagen wir nichts. Wir wollen uns nicht in die Nesseln setzen. Wir äussern uns nicht zur Politik.»
«Wer was sagt, wird benachteiligt»
Schliesslich findet sich noch ein Bio-Bauer aus dem Reusstal, der anonym seine Meinung sagen würde. Auch er aus einer alteingesessenen Familie. Seit 50 Jahren verfolgt er das Ideal der Nachhaltigkeit. Aus Überzeugung. Ein alter 68er. Leider gebe es diesen ursprünglichen Pioniergeist heute nicht mehr oft. Viele seien auf den Zug aufgesprungen, auch weil es ein gutes Geschäft ist. Jetzt würden sie um ihre Pfründe fürchten, um ihre Sonderstellung, ihre Marktnische als Bio-Bauern. «Darum sind sie dagegen», mutmasst der Mann. Und bestätigt ebenfalls, dass in der Community Andersdenkende hart beackert werden. «Leider gibt es in der bäuerlichen Welt Alphatiere, die den Ton angeben. Wer nicht spurt, muss mit Nachteilen rechnen», beschreibt er die Situation. Dabei findet er, die Themen gehören auf den Tisch und müssen auch auf dem Tisch bleiben. «Ich habe die Hoffnung, dass die Initiativen dies bewirken», sagt er noch. «Dass es eine Patt-Situation gibt und sich deswegen beide Seiten ernst nehmen müssen.»
«Finde die Initiative nicht radikal»
Zwei Jungpolitikerinnen aus der Region hingegen haben weniger Angst, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Die geschilderte Situation sei «sehr bedauerlich», findet Annetta Schuppisser. «Freie Meinungsäusserung ist ein Grundbaustein der Demokratie.» Das Vorstandsmitglied der Bremgarter Grünliberalen ist ohne Wenn und Aber für die Annahme beider Initiativen. «Sie sind gut, nachhaltig und vernünftig. Für Konsumentinnen, Bürger und Umwelt.» Besonders zur Pestizidinitiative hat die Tägligerin eine dezidierte Meinung: «Wir müssen bei unseren heutigen politischen Entscheiden an die Zukunft denken. Synthetische Pestizide schaden einer intakten Umwelt, dem Erhalt der Biodiversität und auch unserer Gesundheit mit ihrer chemischen Zusammensetzung.»
Nebenbei: Sie findet die Initiative überhaupt nicht radikal. «Viele konventionelle Betriebe ohne Bio-Zertifizierung arbeiten auch heute schon mit natürlichen Hilfsmitteln.» Vier der zehn meistverkauften Pflanzenschutzmittel seien für den Biolandbau zugelassen. Sollte die Initiative angenommen werden, würde die landwirtschaftliche Forschung zehn Jahre lang mehr Mittel erhalten. Das würde Innovation fördern – eine besonders wertvolle Tatsache für die junge Frau. So könnte die Schweiz zum Vorreiter einer effizienten, gesunden und nachhaltigen Landwirtschaft werden.
«Eine liberale Lösung»
Evelyn Motschi, Vizepräsidentin der Badener Jungfreisinnigen, welche die Trinkwasser-Initiative unterstützen, hält mit ihrer Meinung ebenfalls nicht hinter dem Berg. «Nahezu in allen Lebensbereichen sind Subventionen an Richtlinien und Bedingungen geknüpft – dieses Prinzip soll auch für die Landwirtschaft gelten», sagt die Oberrohrdorferin. Trinkwasser sei eines der wertvollsten und zentralsten Güter für die Lebensqualität in der Schweiz. Es gelte, dieses zu wahren. «Die Initiative sieht eine liberale Lösung vor, die Flexibilität und Raum in der Umsetzung bietet», sagt sie. Das würde dem Stillstand in der Agrarpolitik entgegenwirken. Motschi ist sich sicher: «Aufgrund der fortschreitenden Technologie sind viele wirkungsvolle und zugleich trinkwasserschonende Alternativen durchaus möglich.»
«Der Druck ist riesig»
Welche Böden, welches Wasser, welches Klima hinterlassen wir den im Jahr 2021 geborenen Kindern? Diese Fragen treiben auch Gertrud Häseli um. Sie ist zwar aktiv im «Bäuerlichen Komitee für sauberes Trinkwasser» und im Pestizid-Zusammenschluss «Leben statt Gift». Aber auch bei alten Hasen wie ihr ist der Respekt vor der Agrarlobby spürbar: «Ich werde zwar Fahnen der Pro-Komitees auf meinem Hof aufhängen – aber nur kleine», gesteht die Politikerin und Bio-Bäuerin. Und bestätigt: «Der Druck ist riesig.» Dies aber auch, weil die möglichen Auswirkungen der Trinkwasserinitiative ihrerseits vielen Bauern schlaflose Nächte bereitet. «Massentierhaltung in dem Ausmass, wie sie in der Schweiz heute betrieben wird, wäre schlicht nicht mehr möglich», sagt die Grünen-Grossrätin. Darum müssten auch Konsumentinnen und Konsumenten mitspielen und ihre Ansprüche hinterfragen. Das Thema ist komplex. «Der Fleischkonsum, der bei uns im Moment als normal gilt, ist viel zu hoch, viel zu einseitig und schädlich für unsere Umwelt wie für unsere Gesundheit», ist sie sich sicher.
Diskussion wäre fruchtbarer
Komposttee ist übrigens eine wässrige Lösung, in der sich unter Zugabe von Melasse innert 24 Stunden fleissig Mikroorganismen vermehren. Es gibt Bausätze zu kaufen dafür. Der Sud wird, stark verdünnt, auf den Feldern ausgebracht. Es ist eine Alternative zum Einsatz von Pestiziden. Wenn sich die Mikroorganismen vermehren und gegenseitig fressen, entstehen Abbauprodukte. Diese können direkt durchs Blatt von der Pflanze aufgenommen werden und schützen die Pflanze. Oder sie sorgen im Boden dafür, Stoffwechselprozesse anzuregen und Nährstoffe für die Pflanzen verfügbar zu machen.
Während es in der Tonne gluckert, kämpfen Mikroorganismen miteinander. Ihre Auseinandersetzung im Komposttee bewirkt Positives: Chemische Stoffe, die den Pflanzen Gutes tun, entstehen. Schön wäre, wenn eine offene Diskussion unter den Beteiligten in der Landwirtschaft ebenso positiv zur Meinungsbildung beitragen könnte. Leider scheint das in unserer Region nicht mehr möglich zu sein – weil eine Seite entschieden hat, die andere mundtot zu machen.
Stefan Böker



