Schatz aus dem Keller in Bananenschachteln
21.05.2021 Mellingen, Region ReusstalDank Gemeinderat Beat Gomes wird der Nachlass des Schweizer Kunstfotografen Alex Kayser ( 1949–2015) komplettiert
40 lange Jahre hortete Beat Gomes sechs Bananenkisten. Achtmal schleppte er sie bei Umzügen von Keller zu Keller, ohne sich mehr zu erinnern was darin ist. Jetzt ...
Dank Gemeinderat Beat Gomes wird der Nachlass des Schweizer Kunstfotografen Alex Kayser ( 1949–2015) komplettiert
40 lange Jahre hortete Beat Gomes sechs Bananenkisten. Achtmal schleppte er sie bei Umzügen von Keller zu Keller, ohne sich mehr zu erinnern was darin ist. Jetzt kommt es ans Licht. Es sind Tausende von Exponaten des Schweizer Kunstfotografen Alex Kayser, der 2015 in New York verstorben ist.
Er hatte sie alle vor der Linse, berühmte Personen, Filmstars, Popsternchen, den Bundesrat aber auch unbekannte Personen. Alex Kayser war ein Meister seines Fachs. Mellingens Gemeinderat Beat Gomes kannte den Künstler persönlich. Gomes erzählt am Küchentisch, in seiner Wohnung an der Hauptgasse in Mellingen, von seinen Begegnungen mit Kayser in New York. Er schrieb damals, anfangs der 1980er-Jahre noch mit seinem Taufnamen Beat Alder, als Freelancer Reportagen für mehrere Magazine. An welchem Anlass Gomes den Fotografen kennenlernte, daran kann er sich nicht mehr erinnern. An den Künstler hingegen schon. Zusammen zogen sie um die Häuser in New York. Restaurants, Bars und Nachtlokale. «Alex Kayser war ein liebenswürdiger, einzigartiger Mensch. Zu Beginn haben wir uns fast täglich gesehen, später dann weniger», erinnert sich Gomes.
Entenfüsse beleben
Beat Gomes plante für ein Magazin eine Reportage über den extravaganten Künstler. Dafür traf er Kayser in einem chinesischen Teehaus, in Chinatown, New York. Kayser bestellte glasierte Entenfüsse mit Fleischpastete, denn er glaubte an die belebende Wirkung der Schwimmhäute. Überliefert sind obige Zeilen in einem unveröffentlichten Manuskript von Beat Gomes. Der leidenschaftliche Journalist tippte in seine Hermes Baby eine Reportage über den Fotografen. Veröffentlicht wurde das sieben Seite starke Zeitdokument nie. «Kayser flickte an meinem Text so lange herum, bis ich die Schnauze voll hatte. Ich liess es schliesslich sein und verzichtete damit auf mein Honorar», sagt Gomes.
Dieses Manuskript lagerte 40 Jahre in seinem Atelier am West Broadway, wo die ganz grossen Künstler ihre Ateliers haben. Es ist nun in seinem Nachlass aufgetaucht und fand den Weg zurück zu Beat Gomes. Die Reportage wäre heute noch ein Lehrstück für die Ausbildung von jungen Journalisten. Packend, informativ und treffend. Gomes schrieb:
«Die Portraitstudien von den Bundesräten will Kayser nicht preisgeben; konsequenterweise nicht. Leon Schlumpf war zur Zeit als Kayser mit Blitzlampen und Fotokameras durchs Bundeshaus geisterte so pressiert, dass es für eine Ganzaufnahme nicht reichte. Mit der für ihn so typischen Kompliziertheit ergeht sich Kayser in verworrene Erklärungen, weshalb sechs Bundesräte plus Schlumpf mit Brustbild nicht publiziert werden können. Also kein Bundesrat. Vielleicht, wenn es ihn wieder mal packt, reist er erneut nach Bern, damit aus den sechs Bundesräten doch noch ein Gesamtbundesrat wird.»
Gomes schreibt in seiner Reportage, wie Kayser ins Bundeshaus kam. Die Idee kam spontan eines Nachts, der Alkohol floss reichlich. Ein Berner Journalist, der mit Kayser befreundet war, schrieb Briefe an die Pressechefs der Magistraten. «Sehr geehrte Herren ... Der in New York lebende Schweizer Fotograf Alex Kayser möchte gerne den Schweizer Bundesrat portraitieren.» Die Anfrage löste Unsicherheit aus, da könnte ja jeder kommen.
Alex Kayser wandte schon in jungen Jahren eine spezielle Technik an. Er kolorierte Schwarz-Weiss-Fotos. Als die ersten Kolorierungen entstanden, wurde Kayser belächelt. Damit könne er doch kein Geld verdienen. Auf Andy Warhols Frage, weshalb er schwarz-weiss fotografiere und dann die Bilder einfärbe sagte Kayser: «Ich wollte in Farbe arbeiten, mochte aber die Kodak-Farben nicht. Wenn du in Schwarz-Weiss arbeitest und plötzlich willst du Farbe, dann willst du eben kein Schwarz-Weiss mehr. Das ist vergleichbar mit Rockmusik (Kayser spielte in Basel in einer Rockband). Wir sangen einfach: ‹Hey baby, baby gotta … gotta … do it … come on»
Obwohl Alex Kayser ein ordnungsliebender Mensch war, faszinierte ihn das Chaos. Gomes schreibt in seinem Porträt weiter: «Ein zusammenhängendes Gespräch mit Kayser scheint ein schieres Ding der Unmöglichkeit. In permanenter Zerstreutheit, getrieben von unzähligen Projektideen, ignoriert er Fragen oder kontert mit Gegenfragen. Er ist dauernd in Bewe gung, wühlt dort in einem Stoss Fotos, blättert da in alten Publikationen, beschwert sich über lausige Berichte, die über ihn geschrieben wurden, um im gleichen Atemzug die Hände zu werfen, weil er sich als lausiger Spürhund in seinem akribisch ausufernden Archiv verliert.»
Gomes nimmt Kayser auf
Reich wurde Alex Kayser mit seiner Kunst nicht. «Er war ständig klamm», erinnert sich Beat Gomes. Inzwischen wieder in der Schweiz arbeitete er als Journalist bei verschiedenen Medienhäusern in Basel. Und plötzlich stand eines Tages Kayser vor seiner Tür, ohne Bleibe. Ob Gomes ihm aus der Patsche helfen könne? Der Journalist bot dem Fotografen für ein paar Tage eine Unterkunft an. Aus den paar Tagen wurden Monate. Eine Miete bezahlte er nicht, erinnert sich Gomes. Kayser schenkte ihm und seiner damaligen Frau Ingrid jedoch eine Aufnahme von Salvador Dalí mit persönlicher Signatur. «For Beat + Ingrid THE BEST», steht eingemittet unter Dalí. Die Aufnahme (siehe Bild links) entstand in den 1970er-Jahren und zeigt den spanischen Maler Dalí, sitzend vor einem der Torbögen seiner weitläufigen Finca mit einer Christustatue im Arm, so, als ob er ein Baby halte. Noch heute ziert dieses Bild die Wand in Gomes Schreibstube in der Altstadt.
Sechs Bananenschachteln
Alsbald zog der rastlose Fotograf weiter gegen New York, verliess die Bleibe, die ihm Gomes angeboten hatte. Zurück blieben sechs Bananenschachteln, die Alex Kayser im Keller von Gomes lagerte. Gomes und Kayser verloren sich aus den Augen. Achtmal ist Gomes umgezogen, einmal sogar nach Frankreich. Und immer wieder sind diese Bananenschachteln von einem zum anderen Keller geschleppt worden. «Ich wusste gar nicht mehr, was in diesen Schachteln war», sagt der Journalist zum «Reussbote».
Zurück zum unveröffentlichten Manuskript. Beat Gomes wählte den Titel : «Hey baby, baby gotta … gotta … do it … come on». Der Titel ist einem Zitat entlehnt, das Alex Kayser gegenüber Andy Warhol gemacht hat. Warhol war der erste grosse Künstler, den Kayser in New York aufs Korn nahm. Kayser residierte in einer Loft am West Broadway. Beste Künstleradresse.
«Alex Kayser griff zu einem einfachen Mittel, wenn er die Grossen vor seine Linse bekommen möchte. Dalí habe er ganz einfach angerufen und ihm gesagt, er hätte soeben Warhol fotografiert. Einen Brief habe er noch nie geschrieben. Kayser nimmt den Telefonhörer in die Hand und ruft den damaligen Bürgermeister von New York an. Ob denn der Herr Bürgermeister Zeit und Lust für einen Fototermin habe? ‹Nein›, tönt es am anderen Ende des Drahtes. ‹Nein, wer sind sie überhaupt?›. Darauf geht Kayser gar nicht erst ein. Stattdessen sagt er: ‹Schauen Sie doch mal im Terminkalender nach. Wie wär’s morgen um zehn oder übermorgen?›»
Alex Kayser war einer der bedeutendsten Schweizer Fotokünstler, der hierzulande in Vergessenheit geraten ist, nachdem er in die Welt auszog. So machte Kaysers Buch «Heads» Furore. Er lichtete darin unzählige Personen ohne Haare ab, vom Millionär bis zum Bettler. «Es waren Physiognomie-Studien, nicht Bilder von Glatzköpfen per se. Mit dieser legendären Porträtserie hat Kayser den Oben-ohne-Look, heute ein Markenzeichen von CEO bis Hipster, salonfähig gemacht», sagt Peter Bartholick. Er war langjähriger Assistent bei Alex Kayser und ist Präsident der Alex Kayser Foundation, welche den Nachlass des Fotografen verwaltet.
Der Schatz kommt ans Licht
Als Kayser sein Atelier in Kleinbasel auflöste, stellte er die Bananenschachteln in den Keller von Gomes. Wie bereits erwähnt, kamen die Kisten über Frankreich nach Mellingen. Sie lagen im Keller eines Altsadthauses, wo Gomes eine kleine Wohnung mietet. Als seine Ehefrau Idalena für ein paar Wochen zurück in die Schweiz reiste, um Beat Gomes bei seiner Chemotherapie zu unterstützen, taucht der Schatz plötzlich auf. «Meine Frau war im Keller um aufzuräumen, da stiess sie auf die Bananenschachteln. Sie wollte sie bereits entsorgen, als Gomes noch einen Blick ins Innere warf. Was zum Vorschein kam sind Tausende von Exponaten, fein säuberlich getrennt mit Seidenpapier. Der Schatz, der über 40 Jahre lang in Kellern muffelte, komplettiert das Werk des Künstlers. Gomes machte sich nach einer ersten groben Sichtung des grossen Schatzes auf die Suche nach Alex Kayser. «Über all die Jahre hinweg, haben wir uns nie mehr gesehen und auch nichts voneinander gehört», sagt der Journalist. Im Internet wurde er schliesslich fündig und vernahm, dass der Fotograf im Jahre 2015 verstorben ist. So suchte Beat Gomes den Kontakt zur Alex Kayser Foundation, welche den grossen Nachlass des wohl faszinierendsten Kunstfotografen der Schweiz verwaltet. Peter Bartholick holte in Mellingen die sechs Schachteln ab. Der Inhalt wird zurzeit gesichtet, gelistet und digitalisiert.
Benedikt Nüssli
Alex Kayser und sein Werk
Es gibt wenige Menschen, die ein derart sicheres Gefühl für die Stimmung einer Zeit besassen wie der Künstler Alex Kayser (1949–2015). Seine Bilder, entstanden über sechs Jahrzehnte, geben einen Einblick in Szenen des Menschseins, wie sie sich an der Schwelle zum dritten Jahrtausend manifestieren: Zu den Charakteristiken der Epoche gehören das Überhandnehmen des Numerischen, die Allgegenwart von Bildschirmen und eine Symbolsprache, in der sich warenorientierte Sichtweisen spiegeln.
Für Alex Kayser standen Aspekte des Seriellen und des Medialen im Vordergrund – zwei Themen, mit denen sich auch die Pop-Art intensiv beschäftigte. Und so entstanden Fotoserien von Künstlern, Musikern, Stadtstreichern, Bankiers, Soldaten, den sieben Bundesräten der Schweiz oder den Wiener Sängerknaben.
Alex Kaysers Loft am West Broadway wurde schnell zu einer Drehscheibe. An der Bar sassen Persönlichkeiten und Künstler wie Sam Wagstaff, Andy Warhol, Georg Maciunas oder Christo und Jeanne-Claude. Mit besonderer Liebe bewegte sich Alex in den Musikclubs von Lower Manhattan, in denen Trends sich in ihren Anfängen zeigten. Kontakte bestanden natürlich zu Schweizer Grössen des Kulturlebens wie dem Popmusiker Dieter Meier oder dem Schriftsteller Max Frisch.
Das Thema für «Künstler Porträts», 1981 als Buch erschienen, ergab sich somit fast von selbst. Dabei entwickelte Alex ein eigenes Ausdrucksmittel: Er kolorierte Schwarz-Weiss-Abzüge mit Lasurfarbe. Im späteren Buch «Köpfe» erfuhr das Serielle nochmals eine Steigerung. Alex verzichtete nicht nur auf Farbe, sondern auch auf die Perspektive. Zum stärksten Gestaltungsmittel wurde das Fehlen des Haars. Das Resultat ist eine Spannung zwischen zwei Polen: Einerseits entsteht der Eindruck des Anonymen, andererseits tritt das Individuelle stärker als gewohnt hervor. Kritiker und Freunde verwendeten für den Stil der Aufnahmen oft den Ausdruck «narrative Fotografie»: Alex schaffte es, die verschiedenen Aspekte einer Person und einer Situation in einem einzigen Bild festzuhalten.
Im zweiten Teil von Alex’ Schaffenszeit gewann das Mediale an Bedeutung. Der Computer und seine Möglichkeiten zogen Alex in seinen Bann, er realisierte das interaktive Projekt «Stuka Tower». Touchscreens in Ausstellungsräumen versetzten die Besucher in die Lage, Bilder des Geschehens an einem entfernten Ort aufzunehmen. Damit verschwanden nicht nur die gewohnten Dimensionen von Raum und Zeit. Das Werk war zudem nichts Fertiges mehr, sondern etwas, das sich stets veränderte.
Was unter Alex’ Händen entstand, erhielt weltweit Aufmerksamkeit. Die Liste der Ausstellungen umfasst neben den USA acht europäische Länder und Japan. Alex Kayser bleibt als ein Mann in Erinnerung, der in einer ereignisreichen Zeit an einem Knotenpunkt der Entwicklung tätig war und seinen Beitrag dazu leistete.
Georg Weber, Zürich
Über den Verein Alex Kayser Foundation
Gegründet nach Alex Kaysers Tod, um sein immenses künstlerisches Lebenswerk zu bewahren und es zur Wiederentdeckung zugänglich zu machen. Die Alex Kayser Foundation ist ein gemeinnütziger Verein, der sich einzig durch Spenden finanziert. Allein die mediengerechte Verwahrung der Werkbestände sowie die zielführende Aufarbeitung des umfangreichen Künstler-Archivs sind kostenintensiv. Die Umsetzung und Realisierung der oben genannten Projekte erfordert weiterreichende finanzielle Mittel und Unterstützer. Der «Reussbote» möchte mit dieser Reportage mit Bezug zu Gemeinderat Beat Gomes zugleich einen öffentlichkeitswirksamen Beitrag leisten: Der Verein sucht Sponsoren, die diese wichtige Kulturarbeit unterstützen möchten, interessierte Personen und Organisationen können sich wenden an: info@alexkayserfoundation.org Präsident Peter Bartholick gibt gerne weitere Auskünfte. (red.)








