Sensation: Dieser Baumstamm ist 7326 Jahre alt
21.05.2021 Mellingen, Region ReusstalBauarbeiten beim linken Reusspfeiler der Umfahrung bringen einen aussergewöhnlichen Fund ans Tageslicht
Viktor Zimmermann ist in Mellingen mit seiner Kamera viel unterwegs. Als er letzthin beim linken Brückenpfeiler am Ufer der Reuss einen alten Baumstamm entdeckte, hatte er eine ...
Bauarbeiten beim linken Reusspfeiler der Umfahrung bringen einen aussergewöhnlichen Fund ans Tageslicht
Viktor Zimmermann ist in Mellingen mit seiner Kamera viel unterwegs. Als er letzthin beim linken Brückenpfeiler am Ufer der Reuss einen alten Baumstamm entdeckte, hatte er eine Vorahnung. Er rettete den Stamm vor der Entsorgung und wandte sich an das Dendrochronologische Institut.
Schon als 2012 beim Aushub für das Gewerbe- und Wohnhaus Birrfeldstrasse 3/5 (heutige Post) Baumstämme zum Vorschein kamen, fragte sich Viktor Zimmermann, aus welcher Zeit diese wohl stammen könnten. Kurz entschlossen fragte er die Fislisbacher Baufirma Wettstein an, ob ihm ein paar Teile eines Stammes überlassen werden. Eine Holzprobe brachte er darauf nach Zürich ins Amt für Städtebau in die Abteilung für Unterwasserarchäologie und Dendrochronologie. Unter Dendrochronologie versteht man die Datierung von Hölzern aufgrund der Jahrringe. Mit dieser Methode kann man (mehr oder weniger) genau feststellen, wann ein Stamm gefällt wurde bzw. wann er abgestorben ist. Da die Jahrringe je nach Witterung ungleiche Abstände haben, werden von jeder Region Datenbanken mit den Jahrringen der Hölzer erstellt, von denen man weiss, wann sie gefällt wurden bzw. abgestorben sind. Aufgrund dieser Unterlagen kann dann ermittelt werden, wie alt die Holzproben sind. Für die letzten Jahrhunderte kann man mit dieser Methode meist das genaue Jahr nennen, für ältere Holzproben die ungefähre Zeitepoche.
Rund 2000 Jahre alt
Felix Walder untersuchte im Labor für Dendrochronologie die Baumscheibe. Es stellte sich heraus, dass es sich um ein Stück Mooreiche handelt, das in den Zeitraum zwischen 100 v. Chr. und 220 n. Chr. datiert werden kann. Diese Hölzer stammen also aus der Zeit, als die Römer bei uns regierten. Leider wäre es mit hohen Kosten verbunden gewesen, um mit anderen wissenschaftlichen Methoden noch präzisere Zeitangaben ermitteln zu können. So freute man sich trotzdem über den rund 2000 Jahre alten Fund.
Der Brückenbau für die Umfahrung brachte es an den Tag
Als Städtlifotograf ist Viktor Zimmermann seit letzten Sommer immer wieder auf den grossen Baustellen in Mellingen anzutreffen. Beim Reusspfeiler an der linken Reussseite waren ab Mitte September 2020 die Taucher der Firma David Wiederkehr, Unterwasserbau AG, mit dem Reinigen der Spundwände im Einsatz. Die Unterwasserbetonplatte sollte dann sauber um die sechs 32 Meter tiefen Bohrpfähle platziert werden können.
Da die Bodentiefe in der Pfeilergrube für diese 1,5 Meter dicke Unterwasserbetonplatte noch zu gering war, musste der Baggerführer der Firma Marti weiteres Material aus der Pfeilergrube entfernen. Dabei brachten die Baggerschaufeln neben Schlick und Kies einen knapp 4 Meter langen Baumstamm ans Tageslicht.
Stamm am Ufer deponiert, wo er vom Fotografen entdeckt wurde
Auch hier stellte sich Viktor Zimmermann sofort die Frage: Wie lange lag wohl dieser Baumstamm dort im Schlick der Reuss? Das musste abgeklärt werden! Schnell wurde der Stamm vor der Entsorgung oder einem Hochwasser gerettet. Am 2. Oktober 2020 wandte sich Zimmermann wiederum an Felix Walder vom Dendrochronologischen Labor in Zürich, der neben seinen Abklärungen auch noch eine C14-Untersuchung an der ETH veranlasste.
Die C14-Methode
Die C14-Methode – auch (Radiokarbonmethode) genannt – ist die radiometrische Datierung kohlenstoffhaltiger, inbesondere organischer Materialien. Der zeitliche Anwendungsbereich liegt zwischen 300 und etwa 60 000 Jahren. Sie liefert daher erstaunlich genaue Daten, auch bei sehr alten Objekten.
Daher wartete man ungeduldig auf das Ergebnis der ETH. Endlich traf der Bericht am 27. Februar 2021 ein: Der Baum sei eine Mooreiche und zeige nach allen Untersuchungen und Vergleichen eine gute Übereinstimmung auf das Jahr 5305 vor Christus. Ein ähnliches Holzstück habe man in Dietikon (ZH) gefunden. Auch Wissenschafter in Mannheim und in Freiburg im Breisgau kamen bezüglich Datierung der Mooreiche von Mellingen zum gleichen Ergebnis. Der gefundene Baumstamm hat also ein stolzes Alter von 7326 Jahren.
Die Freude ist gross!
Was geschieht mit diesem Fund? Nach Bekanntwerden dieses sensationellen Fundes stellte sich die Frage: Wie kann man dieses uralte Holzstück für die Nachwelt erhalten? Laut Sven Straumann, Leiter Schutz, Erhalt und Fundstellen der Kantonsarchäologie Aargau, hätte man das Fundstück sofort im Wasser lagern sollen, um danach eine gute Konservierung vornehmen zu können. Leider war dies nicht geschehen. Schade – eine leise Enttäuschung machte sich bemerkbar. Dieser Stamm, der über 7000 Jahre von der Luft abgeschnitten war, hat also nicht mehr die genau gleiche ursprüngliche Struktur. Doch riet der Archäologe, das Holzstück trotzdem weiterhin kühl und trocken zu lagern. Gut möglich, dass eine Scheibe davon dereinst im Ortsmuseum Mellingen ausgestellt werden kann. Übrigens hat das Fotoarchiv Mellingen die Untersuchungen über das Alter dieser Mooreiche vorderhand aus dem eigenen Sack bezahlt.
Fotoarchiv-Team Mellingen Madlen Zimmermann, Rainer Stöckli, Viktor Zimmermann
Wie sah es vor 7500 Jahren im Raum Mellingen aus?
Viel Wald, wenige Menschen
Die nachfolgenden Angaben vermittelte dem Fotoarchiv-Team mehrheitlich Christian Maise, Leiter Grabungen bei der Kantonsarchäologie: «Die Gletscher hatten sich zurückgezogen. Die Sommer waren damals heisser und die Winter kühler als heute. Der Unterschied zwischen Sommer und Winter wurde aber ständig geringer, was die Bildung der Vegetation förderte. Das Mittelland war hauptsächlich mit Wald (Ulme, Eiche, Linde und Esche) bedeckt. Sesshafte Bewohner lebten damals erst entlang der Donau, in Oberitalien und Südfrankreich. Sie betrieben bereits Viehzucht und etwas Ackerbau. Hier im schweizerischen Mittelland hielten sich aber nur wenige Menschen als Jäger und Sammler auf.
In diesem nacheiszeitlichen Waldland hatte es noch mehr Seen und Moore als heute. Bäche und Flüsse waren noch längst nicht reguliert. Fast auf der ganzen Strecke zwischen Luzern und Mellingen mäandrierte die Reuss in einem breiten Auenbereich.» Überreste der sich damals schlängelnden Reuss sehen wir noch heute beispielsweise in der Gegend von Fischbach-Göslikon und Rottenschwil (sogenannte «Stille Reuss»). «Mit jedem Hochwasser änderte der Fluss vor 7000 Jahren seinen Lauf. Es bildete sich neue Mäander während alte Arme zugeschüttet wurden. Die beim Hochwasser mitgerissenen Bäume wurden dabei zusammen mit dem Schotter abgelagert und wurden so unterhalb des Grundwasserspiegels der Zersetzung entzogen. Somit blieben sie bis heute erhalten und können in Kiesgruben oder bei Brückenbau-Arbeiten wieder ans Licht kommen.»


