Schwamm drunter – Gautschete 2021
09.07.2021 Mellingen, Region ReusstalIn der Druckerei Nüssli wird das Ende der Lehrzeit in der Tradition der schwarzen Kunst gefeiert
«Schwarzkünstler», so nennen sich seit jeher Schriftsetzer und Buchdrucker. Neue Mitglieder nehmen sie traditionell mit einer Wassertaufe in ihren Berufsstand auf. Der Brauch ...
In der Druckerei Nüssli wird das Ende der Lehrzeit in der Tradition der schwarzen Kunst gefeiert
«Schwarzkünstler», so nennen sich seit jeher Schriftsetzer und Buchdrucker. Neue Mitglieder nehmen sie traditionell mit einer Wassertaufe in ihren Berufsstand auf. Der Brauch aus dem 16. Jahrhundert wird auch heute noch gepflegt.
Die Vorbereitungen für die Gautschete gingen schon Wochen vorher los. Im Geheimen. Zwar wusste der ganze Betrieb Bescheid. Lehrtochter Natascha Huber und Lehrling Carlo Cibola aber durften nichts erfahren. Der Termin wurde festgelegt, Gautschmeister, Packer und Schwammhalterin wurden ernannt, und nach und nach unterzeichneten alle Kolleginnen und Kollegen aus dem Betrieb die Gautschbriefe – künstlerische, handgeschriebene Urkunden aus geschöpftem Papier, welche «die Jünger Gutenbergs» mit viel Liebe zum Detail als echte Schwarzkünstler anerkennen und ihnen die «Wassertaufe ad posteriora» (das heisst «auf den Hintern») bescheinigen.
Wenn der Gautschmeister ruft
Am 6. Juli war es dann so weit. Die überraschten Opfer liessen sich widerstandslos packen, in Gitterwagen verfrachten und abtransportieren – sehr zur Erheiterung der Belegschaft, aber auch von Passantinnen und Passanten. Beim Brunnen an der Bruggerstrasse, den passenderweise eine Statue von Johannes dem Täufer ziert, warteten schon Familie und Freunde von Natascha und Carlo auf die Prozession. Ebenfalls wohnten Ehrengäste, ehemalige Mitarbeiter, die selbst schon gegautscht wurden, dem Spektakel bei.
Als Gautschmeister mit Fliege, Frack und Zylinder waltete Lehrlingsausbildner Jürgen Wedekind. Auf sein Kommando wurden Gesellin und Geselle von ihren Fesseln befreit und zum Brunnen geschleppt, begleitet von den Zurufen und dem Gelächter der Umstehenden. «Lasst seinen Corpus posteriorum fallen auf diesen nassen Schwamm, bis triefen seine beide Ballen», verlas der Gautschmeister die überlieferten Worte, welche den Humor der Druckerzunft widerspiegeln. «Der durstgen Seele gebt ein Sturzbad obendrauf, das ist dem Sohne Gutenbergs die beste Tauf.» Die baffen Gesichter der Täuflinge, als sie dann tatsächlich mit Wasser überschüttet und in den Brunnen getaucht wurden, waren unbezahlbar. Auch sie selbst mussten dabei lachen. Die Anwesenden trösteten sie mit Applaus und gratulierten später persönlich. Bei einer solchen Taufe darf natürlich auch das leibliche Wohl nicht zu kurz kommen und so genoss man noch einen Apéro in gemütlicher Runde.
Die Sünden abwaschen
Der Begriff des Gautschens kommt eigentlich aus der Papierherstellung. Man schöpfte das Papier aus dem Wasser und legte es mit etwas Druck auf einem Trockenfilz ab. Noch heute, in der industriellen Fertigung, nennt man die erste mechanische Entwässerung der Papierbahn so. Als Brauch steht das Gautschen symbolisch für die Reinigung von allen «Sünden», welche die jungen Berufsleute während ihrer Lehrzeit begangen haben. «Schwamm drüber», sagt man, wenn etwas abgeschlossen, wenn etwas vergeben und vergessen ist. «Schwamm drunter» könnte es in Anlehnung an diese Redewendung beim Buchdrucker-Brauch heissen.
Es ist übrigens das erste Mal, dass in der Druckerei Nüssli zwei Gäutschlinge am selben Tag getauft wurden. Bisher fanden die Lehrabschlüsse nie gleichzeitig statt. Vollständig abgeschlossen ist der Prozess indes noch nicht: Der wertvolle Gautschbrief wird der frischgebackenen Polygrafin und dem taufrischen Drucktechnologen erst im Rahmen eines feierlichen Essens überreicht. Und dieses Gautschfest müssen sie selbst ausrichten.
Stefan Böker








