Wohnkultur auf dem alten Birchmeier-Areal

Fr, 27. Aug. 2021

1997 verliess die Birchmeier Sprühtechnik AG Künten – heute existiert an der Fabrikstrasse ein einzigartiger Mix aus Leben und Arbeiten

Das alte Fabrikareal ist wie ein «Dorf im Dorf». Hier gibt es alles. Mehrere Werkstätten. Einen Coiffeur und einen Gastronom. Sogar einen Steinmetz. Und riesige Loft-Wohnungen. Zentrum dieser Lebens- und Arbeitsgemeinschaft ist das «Race Café» von Hausabwart Theo Schedle und seiner Partnerin Nicole.

Hinweise auf die industrielle Vergangenheit findet man auf dem Fabrikareal an mehreren Ecken. In der Wohnung des Paares hängt beispielsweise ein altes Schild. «Birchmeier & Cie, Baum-, Rebenund Kartoffelspritzenfabrik, Künten Aargau» steht in alten Lettern darauf geschrieben. Auf einem Vordach stehen Produkte, die hier früher hergestellt wurden, ein kleiner Spritzenwagen und mehrere Spritzgeräte aus Metall. Und der Fussboden im «Race Cafe» ist aus Holzpflaster.

Für Flohmi-Fans und Rocker
Diese alten Fabrikböden sieht man nicht mehr oft. Dabei sind sie wunderschön und praktisch: Auf ihnen konnten die Arbeiter gelenkschonend gehen und sie absorbieren Lärm sehr gut. Im «Race Cafe» trägt der Boden seinen Teil zur besonderen Atmosphäre bei. Der Raum mit angrenzender Werkstatt wirkt wie aus der Zeit gefallen. Die Einrichtung sieht aus, als handele es sich um das Clubhaus einer Rockerbande. Mit einem grossen Holztisch in der Mitte, einer massiven Bar aus einem Apothekerschrank, einem Billardtisch und von der Decke hängenden Motorrädern. Der zweite Eindruck ist: Es könnte auch eine exklusive Brocki sein. Sammelstücke ziehen die Blicke auf sich, seien es Jack Daniels-Schilder in allen Variationen, eine Kollektion besonderer Seifen an der Wand oder ein Miniatur-Karussell, das auf dem Klavier steht. Schrauber, so viel steht fest, würden sich hier pudelwohl fühlen. Aber auch für Jäger und Sammler wäre dieser vollgestopfte Raum ein Paradies. Das «Race Cafe» ist allerdings nicht öffentlich, sondern ein Treffpunkt für die rund 100 Mieterinnen und Mieter des Birchmeier-Areals.
Der Mann hinter diesem Kuriosum heisst Theo Schedle. Viele Dinge, die man hier sieht, hat er selbst zusammengetragen. Man kann seinen Pickup-Truck Baujahr 1942 bestellen, um Hausräumungen zu machen. Aber hauptsächlich ist Theo Hausabwart im gesamten Areal. Und mehr als das: Unter seiner Leitung wurden die Gebäude mit einer Fläche von 18 000 Quadratmetern ab Beginn des neuen Jahrtausends zu dem besonderen Mix aus Wohnen und Gewerbe umgebaut, als den sie sich heute präsentieren. Ein Mammutprojekt, dessen letzte Schritte mit diversen Brandschutzarbeiten erst voriges Jahr fertig wurden.

Besitzer will Kulturgut erhalten
Ursprünglich war der gelernte Maschinen- und Motorradmechaniker hier Mieter. Nach dem Wegzug der Birchmeier AG kaufte Autohändler Roland Hächler die Fabrik. Ein Glücksfall, blieb dieses Kulturgut dank ihm erhalten. Zwischen den beiden Oldtimerfans muss es geklickt haben: Schon bald stellte Hächler den talentierten Handwerker als Abwart ein. Mittlerweile betreut Theo Schedle mehrere Immobilien für ihn. Ein Job, für den er teilweise durch die ganze Schweiz fährt. Zeit zum Schrauben bleibt dennoch genug. Für die Mieterinnen und Mieter in Künten ist es ein gewohnter Anblick, Theo über einen Motor gebeugt vor dem «Race Cafe» zu sehen.
Und ständig bleibt jemand auf einen Schwatz da, nimmt Platz am runden Tisch auf der Laderampe. Vom Besitzer wird das gefördert: Er verlangt keine Miete für den Raum.
Entgegen dem gesellschaftlichen Trend zur Individualisierung herrscht auf dem Birchmeier-Areal eine Form des Zusammenlebens, die den Austausch und die Beziehung untereinander fördert. Zusammenhalt und Lebendigkeit werden als Werte hochgehalten. Hier stört es keinen, wenn mal mit dem Saxofon geübt wird. Oder wenn Motoren röhren. Und wenn jemand seine Loft umbauen will, ist das nicht nur möglich, sondern wird auch noch von Theo tatkräftig unterstützt. So entsteht ein besonderes nachbarschaftliches Zusammensein mit hoher Lebensqualität. Dies auch, weil nicht wenige hier wohnen und arbeiten. «Es fühlt sich an wie ein grosse Familie», sagt Theos Partnerin Nicole. Man hilft sich gegenseitig, tauscht sich aus, und nicht selten kocht man auch zusammen.
Natürlich wird auch zusammen gefeiert. Das «Race Cafe» steht den Mieterinnen und Mietern als Location zur Verfügung. Im südlichen Teil des Gebiets, wo der Fährbach fliesst und der Wald angrenzt, hat Theo ausserdem eine Gartenlaube, mehrere lauschige Sitzplätze und die mobile Whisky-Bar gebaut – alles in dem ihm eigenen Stil, mit zusammengeschweissten Skulpturen aus Alteisen und aussergewöhnlichen Gegenständen. Ein traditionelles öffentliches Fest gibt es auch, den jährlichen Flohmarkt. Wirklich ein besonderes Areal, das jeden in seinen Bann zieht, der es erkundet. Oder wie Theo sagt: «In einem Wohnblock könnte ich nicht mehr leben.»

Stefan Böker

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