Wenn der ersehnte Ball abgesagt wird
17.12.2021 Region ReusstalJugendliche und junge Erwachsene leiden psychisch besonders unter den Folgen der Pandemie
Seit zwei Jahren müssen sich Jugendliche immer wieder mit Einschränkungen und Absagen von Anlässen abfinden, die in diesem Alter einzigartig sind und für sie nicht ...
Jugendliche und junge Erwachsene leiden psychisch besonders unter den Folgen der Pandemie
Seit zwei Jahren müssen sich Jugendliche immer wieder mit Einschränkungen und Absagen von Anlässen abfinden, die in diesem Alter einzigartig sind und für sie nicht wiederkehren.
Heute Abend hätte der Weihnachtsball in der Schule Mellingen-Wohlenschwil stattfinden sollen. Raphael Signer, Schulleiter der Sekundar- und Realschule Mellingen-Wohlenschwil bedauert: «Der Weihnachtsball musste abgesagt werden.» Grund ist die starke Zunahme an Corona-Infizierten landesweit und die damit verbundenen Massnahmen und Beschlüsse von Bund und Kanton. Noch im Oktober hatte die Schule in ihrem Quartalsbrief den Weihnachtsball auf die Agenda gesetzt und kommentiert: «Wir sind uns bewusst, dass sich viele Schülerinnen und Schüler schon Wochen im Voraus sehr auf diesen Anlass freuen. Wir hoffen, dass dieser wertvolle Anlass in diesem Jahr wie geplant stattfinden kann.» Gleichzeitig hatte die Schulleitung festgehalten, dass Anlässe möglicherweise kurzfristig abgesagt, verschoben oder in abgewandelter Form durchgeführt werden müssten.
Psychisch besonders belastet
Nun gibt es also, wie schon letztes Jahr, auch dieses Jahr keinen Weihnachtsball. Das bedeutet für die Jugendlichen Verzicht auf einen Anlass, an welchem sie in besonders schönen Kleidern ausgelassen und fröhlich mit Gleichaltrigen das Jahresende hätten feiern können. «Sehr schade», sagen die Oberstüfler. Eine Schülerin, die in der dritten Oberstufe ist, meint: «Für mich wäre es mein letzter Schul-Weihnachtsball gewesen. Danach beginne ich eine Lehre.» Dass sie das bekümmert, ist ihr anzusehen.
Die Schule ist sich des Verzichts bewusst. Sie bietet allen Klassen als Alternative ein Budget, um klassenintern etwas zu unternehmen. Immerhin konnten alle Klassenlager durchgeführt werden, teilt Raphael Signer mit und vertröstet auf den Sommer: «Dann planen wir das Jugendfest.» Die Teenager sollen wieder einen klassenübergreifenden Anlass erleben können.
Verzichten und flexibel bleiben, mussten seit Beginn der Pandemie vor zwei Jahren alle. Manche weniger, andere mehr. Die Stiftung Pro Juventute warnt aber in ihrem vor Kurzem erschienenen Update zum Corona-Report: «Jugendliche und junge Erwachsene sind über alle Altersgruppen betrachtet von den Folgen der Corona-Krise psychisch am meisten belastet.» Die Beratung bei der Notfallnummer 147 zeige eine Rekordhöhe bei der Anzahl Beratungen zu Suizidgedanken – sie sei im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent gestiegen. Stark zugenommen hätten auch Beratungen zu Themen wie «Autoaggression oder Ritzen», «Sich-Sorgen-Machen um Freundinnen und Freunde» oder «Depressive Stimmung».
«Jugendliche werden übersehen»
Marvin Kingsley, Jugendarbeiter beim Jugendbüro Mellingen-Wohlenschwil, erlebt die Jugendlichen als sehr solidarisch. «Sie halten sich recht gut an die Massnahmen», meint er. Kingsley spürt aber auch ihre Belastung. Viele sorgten sich, weil sie Eltern und Angehörige mit dem Coronavirus anstecken könnten, oder sie würden von Zukunftsängsten geplagt. Die Pandemie fordere und überfordere alle, Jüngere und Ältere, sagt er. «Die jungen Menschen stehen aber, entwicklungspsychologisch betrachtet, an einem ganz anderen Ort als ältere Menschen.» Die Zeitspanne von zwei Pandemiejahren erlebt ein 14-Jähriger, verglichen mit seinem erst kurzen Lebensalter, anders als ein 40-Jähriger. Das Warten zieht sich dahin. Als gesellschaftlich aktivste Gruppe erleben junge Menschen die Einschränkungen denn auch intensiver. Erneut müssen Begegnungen mit Kollegen und Freundinnen reduziert werden. Dabei seien solche sozialen Interaktionen für die Jugendlichen besonders wichtig für ihren persönlichen Lern- und Reifeprozess. «Die Jugendlichen werden übersehen», meint Kingsley.
Er wünscht sich für sie vor allem weiterhin genügend Bewegungsfreiheit und auch die Möglichkeit, Sport zu treiben. Was das Jugendbüro Mellingen-Wohlenschwil betrifft, so will es das eigene Angebot hoch halten. Es hat viele seiner Angebote ins Freie verlegt, etwa Geländespiele im Wald oder einen Ausflug auf die Kunsteisbahn. Am 18. Dezember soll die Nachtwanderung stattfinden, die mit einem Besuch des Thermalbades in Schinznach abgeschlossen wird. Aber auch das Jugendbüro kam um Absagen nicht herum. Die letzte Sportnacht konnte nicht durchgeführt werden. «Dort rechnen wir jeweils mit rund 180 Leuten», sagt Kingsley. Insofern versteht er das Dilemma rund um die Absage eines beliebten Anlasses wie dem Weihnachtsball.
Anfang Dezember hatte übrigens Ruth Humbel, Mitte-Nationalrätin aus Birmenstorf, eine Impfpflicht für über 65-Jährige gefordert. Weil die Jungen zum Schutz der älteren Menschen in den letzten zwei Jahren viele Opfer gebracht hätten. Nun brauche es auch eine «gewisse Solidarität» der Älteren gegenüber den Jungen.
Heidi Hess