Sie sind endlich sicher angekommen
15.03.2022 Wohlenschwil, Region ReusstalAm Wochenende konnte Familie Juillerat ihre ukrainischen Freunde in die Schweiz holen
In zwei Kleinbussen machte sich Gregory Juillerat mit seinen drei Helfern auf nach Budapest. Dorthin hatten sich die befreundeten ukrainischen Frauen auf eigene Faust durchgeschlagen und teilweise ...
Am Wochenende konnte Familie Juillerat ihre ukrainischen Freunde in die Schweiz holen
In zwei Kleinbussen machte sich Gregory Juillerat mit seinen drei Helfern auf nach Budapest. Dorthin hatten sich die befreundeten ukrainischen Frauen auf eigene Faust durchgeschlagen und teilweise Schlimmes erlebt.
Samstagabend kurz vor halb neun. Ludmilla Juillerat ist sichtlich nervös. Am Vortag ist ihr Mann früh losgefahren, um ihre langjährigen Freundinnen in Ungarn abzuholen. Jetzt können sie jeden Moment zurückkommen. Das Essen köchelt schon auf dem Herd, eine Nachbarin bringt noch schnell eine Matratze für die Gäste vorbei. Dann klingelt plötzlich das Handy: «Sie sind da!» Ludmilla stürzt hinaus zu den beiden Transportern. Sie fällt zuerst ihrem Mann, dann den erschöpften Frauen in die Arme. Es herrscht emotionales Chaos. Die drei Männer, die seit zwei Tagen im Auto unterwegs sind, wirken müde aber entspannt, rauchen eine Zigarette. Die Fahrt sei problemlos verlaufen, berichtet Gregory Juillerat: «Vom Verkehr her ist alles tipptopp gegangen». Und auch an den Grenzen habe es keine grossen Kontrollen gegeben. «Nur an der Grenze zu Österreich haben sie kurz von aussen ins Auto geschaut», erzählt Gregory. Der Posten am Schweizer Grenzübergang sei gar nicht besetzt gewesen. In Budapest selbst stünden überall Autos mit ukrainischen Nummernschildern: «Das Hotel war voll mit ukrainischen Frauen», berichtet er weiter. Denn ukrainische Männer dürfen nach wie vor nicht aus dem Land. So wie Ludmillas Bruder und Neffe, die zusammen mit der Schwägerin und der kranken Mutter in Charkiw geblieben sind. Diese war leider nicht in der Verfassung für die 1000 Kilometer lange Reise von Charkiw in die Westukraine. Zumal derzeit Temperaturen von Minus 17 Grad herrschen. Ob und wann Ludmillas Mutter ebenfalls in die Schweiz kommen kann, ist daher noch unklar.
Acht Tage im Keller
Die geflüchteten Frauen sind allesamt langjährige Freundinnen von Ludmilla Juillerat. Fotos aus besseren Tagen zeigen fröhliche junge Frauen in Abendkleidern bei einer gemeinsamen Feier. In einem Gruppenchat hielten sie in den vergangenen Wochen rund um die Uhr Kontakt miteinander. Der brach nur ab, wenn es, wie so häufig,Bombenalarm in Charkiw gab. Acht Tage harrte die 33-jährige Svjeta mit ihrer Tochter Arina (7) in einem winzigen Keller aus. Sie lebten in einem besonders betroffenen Stadtteil, der nun fast komplett zerstört ist. Sie hätten in ihren Kleidern geschlafen, bis zu zehnmal am Tag und in der Nacht ertönten die Sirenen. Svjeta erzählt es auf ukrainisch und bleibt erstaunlich ruhig dabei, lächelt sogar hin und wieder. Ihre Freundin Oksana übersetzt auf Englisch und ergänzt, dass Svjeta sich auch Tage danach, als sie bereits in Sicherheit gewesen sei, nicht aus dem Haus getraut habe aus Angst vor den Fliegern. Oksana selbst floh mit ihrer Mutter, der Grossmutter und dem Hund im Auto bis zur Grenze: «Wir haben sechs Tage gebraucht, es gab so viele Checkpoints», berichtet sie. Allein zwei Tage habe es gebraucht, das nötige Benzin für die Fahrt aufzutreiben. Und wie fühlen sie sich jetzt, da sie in der Schweiz sind? «Wir sind hier an einem sicheren Ort, das ist eine Erleichterung», versucht sie ihre gemischten Gefühle zu beschreiben: «Andererseits sind viele Freunde und Verwandte noch dort.» So wie ihr Vater, der als Ambulanzfahrer arbeitet. Oder wie Svjetas Vater, der wie viele Ukrainer einfach hofft, dass der Krieg bald vorbei ist. Diese Hoffnung hält auch die jungen Frauen aufrecht. Obwohl sie befürchten, dass sie selbst dann nicht sofort in ihre teils schwer zerstörten Häuser zurück können.
Hilfsbereitschaft ist gross
Zumindest für die nächsten Wochen haben die Familien aber eine sichereBleibe gefunden. Nicht zuletzt dank eines Aufrufs im «Reussbote»: «Wir haben darauf sicher 40 Anrufe erhalten», erzählt Gregory gerührt. Es sei noch gar nicht dazu gekommen, alle zurückzurufen. Gleich die beiden ersten Anrufe seien «Volltreffer» gewesen. Jemand aus Wohlenschwil habe ein ganzes leer stehendes Haus zur Verfügung gestellt. Und ein pensioniertes Ehepaar aus Mellingen blockiere ihre Airbnb-Wohnung solange wie nötig. «Sie haben sogar angeboten, den Frauen zu helfen, sich vor Ort zurecht zu finden», freut sich Juillerat. So haben die sechs Frauen mit ihren Kindern wenigstens einen Ort, wo sie erst einmal zur Ruhe kommen können.
Michael Lux



