«Es ist unmöglich, nicht daran zu denken»
20.05.2022 Mellingen, Region Reusstal, WohlenschwilVor zwei Monaten holte Familie Juillerat sechs ukrainische Frauen mit ihren Kindern aus Budapest in die Schweiz
Der Krieg in der Ukraine ist in den Gedanken der geflüchteten Frauen aus Charkiw immer präsent. Dennoch versuchen sie mit ihren Kindern in der Schweiz einen ganz ...
Vor zwei Monaten holte Familie Juillerat sechs ukrainische Frauen mit ihren Kindern aus Budapest in die Schweiz
Der Krieg in der Ukraine ist in den Gedanken der geflüchteten Frauen aus Charkiw immer präsent. Dennoch versuchen sie mit ihren Kindern in der Schweiz einen ganz normalen Alltag zu leben.
Déjà-vu: Wieder sitze ich bei Familie Juillerat in Wohlenschwil am Küchentisch und warte auf das Eintreffen der ukrainischen «Gäste». Doch heute ist vieles anders als beim letzten Besuch. Damals war es bereits finstere Nacht, als die geflüchteten Frauen und Kinder ankamen. Heute hingegen scheint draussen die Sonne und die Vögel zwitschern munter in den Bäumen.
Gut zwei Monate ist es her, dass sich Gregory Juillerat und drei Helfer nach Budapest aufmachten, um in einer Nacht- und Nebelaktion die Freundinnen seiner ukrainischstämmigen Frau Ludmilla in die Schweiz und damit in Sicherheit zu bringen. Die sechs Frauen hatten sich mit ihren Kindern auf teils abenteuerlichen Wegen aus der umkämpften ostukrainischen Stadt Charkiw nach Ungarn durchgeschlagen.
Nicht nur das Wetter, sondern auch die Stimmung ist heute eine völlig andere. Während damals gespannte Erwartung in der Luft lag, fühlt es sich nun an, als würde man sich auf einen geselligen Grillplausch treffen. Eine nach der anderen trudeln die überwiegend jungen Frauen ein. Manche kommen über den Spazierweg hinter dem Haus angeschlendert und winken freudig durch das Terrassenfenster. Bald wird es eng in der Wohnung. Alle Plätze in Ess- und Wohnzimmer sind besetzt. Denn mittlerweile haben es weitere Freundinnen aus dem stark zerstörten Charkiw in die Schweiz geschafft. So wie Ludmilla Juillerats Mutter, die damals aus gesundheitlichen Gründen nicht aus ihrer bombardierten Heimat fliehen konnte und auch nicht ohne Heizung in ihrer Wohnung ausharren musste. Wie ist es den geflüchteten Frauen ergangen, seit jener Nacht Mitte März, als sie sichtlich erschöpft in der Schweiz eintrafen?
Private Unterbringung
«Wie geht es Dir heute?», fragt Gregory Juillerat auf Hochdeutsch, jede Silbe betonend. «Mir geht es gut, danke», antwortet Oksana mit leichtem Akzent. Die 34-Jährige hatte sich wie viele ukrainische Frauen mit dem Auto bis zur Grenze nach Ungarn durchgeschlagen – eine Odyssee, für die sie wegen der vielen Checkpoints und der Benzinknappheit fast eine Woche brauchte. Mit dabei: Mutter Victoria, die Grossmutter – und natürlich Hündin Maila. Untergekommen sind alle vier in einer Airbnb-Wohnung in Mellingen, welche die Besitzer auf einen Aufruf des «Reussbote» hin kostenlos zur Verfügung stellte. «Ich mag Mellingen, es ist nett und ruhig», antwortet Oksana auf Englisch auf die Frage, wie es ihr gefalle. «No bombs», fügt sie mit einem ironischen Lächeln hinzu. Über ihre Gastfamilie findet Oksana ebenfalls nur lobende Worte: «Sie sind sehr nett und helfen uns im Alltag», berichtet sie. Überhaupt sei die Hilfsbereitschaft in der Region sehr gross, erzählen die Frauen einstimmig.
Während Ina und Iryna bei den Juillerats untergekommen sind, leben Svjeta und Jana mit ihren drei Kindern in einem ebenfalls von Privatpersonen zur Verfügung gestellten Haus in Wohlenschwil. «The White House» nennen die Freundinnen es liebevoll. «Unsere Nachbarn haben den Mädchen sogar zwei Fahrräder geschenkt», berichtet die 34-jährige Svjeta, die mit Tochter Kira (6) und dem acht Monate alten Sohn in die Schweiz kam, ehrlich erstaunt. Andere Schweizer Bekannte hätten ein Bettchen und Windeln für das Baby vorbeigebracht.
Gemeinschaft ist wichtig
Sozialen Anschluss haben – zumindest die Kinder – bereits gefunden. Eine Nachbarin leite eine Spielgruppe in Mellingen und habe sofort angeboten, dass die Kinder zu ihr in die Gruppe kommen könnten, berichtet Ludmilla Juillerat, die mittlerweile ganz offiziell von der Gemeinde Wohlenschwil als Betreuerin angestellt ist.
Einige der Kinder besuchen auch schon Schweizer Bildungseinrichtungen: Svjetas Tochter Kira geht in den Kindergarten, Aryna, deren Mutter ebenfalls Svjeta heisst, geht in die Schule und Janas Sohn Demid besucht die vierte Klasse der Primarschule Mellingen-Wohlenschwil – inklusive Deutschclub und Deutsch als Zweitsprache (Seite 19). Ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, ist derzeit eine der Hauptbeschäftigungen der Ukrainerinnen. Wer wie Oksana bereits den «Schutzstatus S» besitzt, geht zweimal die Woche zum Deutschkurs nach Mellingen. Diesen Status zu erhalten, sei jedoch ein längerer Prozess, erklärt Gregory Juillerat. Es brauche eine Online-Anmeldung beim Bund, Registrierungen beim Sozialdienst und Migrationsamt und vieles mehr.
Kirchen leisten wichtigen Beitrag
Die blonde Iryna (32) und ihr sechsjähriger Sohn Ivan sind allerdings erst vor drei Wochen von Charkiw über Kiew in die Schweiz geflohen. Sie müssen das Prozedere erst noch abschliessen. Doch auch für sie gibt es in der Region verschiedene Angebote, um Deutsch zu lernen. So bietet die reformierte Kirche am Standort Fislisbach einen kostenlosen Deutschkurs samt Beratung für die Flüchtlinge an. Eine willkommene Abwechslung ist auch deren Angebot in Mellingen: Jeden Freitag gehen die Freundinnen zum «Kulturellen Begegnungstreff» im Kirchgemeindehaus. Bei Kaffee und Kuchen können sie sich hier mit anderen austauschen und nebenbei deutsche Konversation üben, während die Kinder sich in der Spielecke miteinander beschäftigen. Ein ganz besonderes Ereignis sei für ihre Landsleute das orthodoxe Osterfest in der katholischen Kirche in Wohlenschwil unter der Leitung von Alexandra Atapattu gewesen, berichtet Ludmilla Juillerat. «Es war schön, überhaupt wieder einmal eine Feier zu haben», finden ihre Freundinnen. Es habe so lange keine Gelegenheit mehr dazu gegeben.
Die unbekannte Schweiz
Wenn die Frauen nicht gerade mit Deutschlernen beschäftigt sind oder Behördengänge erledigen, versuchen sie einen möglichst normalen Alltag zu leben. Svjeta und Tochter Aryna kommen gerade aus Baden, wo sie einen kostenlosen Gymnastikkurs besucht haben. Oksana und die anderen haben ausserdem das zeitlich begrenzte Angebot der SBB genutzt, um die nähere Umgebung zu erkunden: Noch bis Ende Mai dürfen Flüchtlinge mit «Status S» gratis durch die Schweiz reisen. Zürich, Luzern und Basel hätten sie schon besucht – und nicht schlecht über die Sauberkeit und die Pünktlichkeit der Bahnen gestaunt. Genauso, wie über die herrliche Schweizer Landschaft mit ihren vielen Bergen und Seen. Ein kleiner Kulturschock sei es aber gewesen, dass man in der Schweiz Wasser aus dem Hahnen trinken könne, erzählen die Frauen lachend.
Der Krieg bleibt im Bewusstsein
Doch trotz all der Ablenkung im Alltag: Was derzeit in ihrer Heimat geschieht, lässt sich nie völlig verdrängen: «Es ist unmöglich, nicht daran zu denken», bringt es Oksana auf den Punkt. Sie alle würden ständig die Ereignisse in der Ukraine verfolgen und stünden täglich in Kontakt mit ihren Lieben zu Hause. Schliesslich mussten die meisten Frauen Freunde, Verwandte, Eltern und vor allem die Männer zurücklassen. Ihre Heimatstadt Charkiw ist ausserdem stark zerstört. Svjetas Viertel, in dem einst über 200 000 Menschen lebten, wurde von Bomben und Raketen dem Erdboden gleichgemacht, ihre Wohnung zerstört. Und auch die schrecklichen Erlebnisse lassen sich nicht so leicht aus den Köpfen vertreiben: «Wir haben jedes Mal Angst, wenn Flugzeuge am Himmel sind», erzählt Oksana. Auch wenn sie Militär begegnen, würden sie wieder an den Krieg erinnert und zucken innerlich zusammen, berichten die Freundinnen. Dann platzt Gregory Juillerat mitten in die gedrückte Stimmung mit der Nachricht, dass die russische Armee rund um Charkiw zurückgedrängt worden sei. Verhaltener Jubel mischt sich mit leiser Hoffnung: «Wir hoffen einfach, dass der Krieg bald zu Ende geht», fasst Ludmilla Juillerat stellvertretend zusammen. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Michael Lux




