Keine Angst vor dem Guggisberglied
30.08.2022 Mellingen, Region ReusstalAuf Anhieb erobert der portugiesische Dirigent die Herzen der Sängerinnen und Sänger im Johanneschor
Der Johanneschor hat die ersten Proben unter neuer Leitung hinter sich. Die Zusammenarbeit passt und sie macht Spass. Jetzt werden Sängerinnen und Sänger für ein ...
Auf Anhieb erobert der portugiesische Dirigent die Herzen der Sängerinnen und Sänger im Johanneschor
Der Johanneschor hat die ersten Proben unter neuer Leitung hinter sich. Die Zusammenarbeit passt und sie macht Spass. Jetzt werden Sängerinnen und Sänger für ein Mitsingprojekt gesucht.
Es sind seine ersten Proben mit dem Mellinger Johanneschor und bereits hat Francisco Santos eines der schönsten Schweizer Volkslieder ins Repertoire dieses Kirchenchors genommen: Am Bettag sollen die 25 Sängerinnen und Sänger das «Guggisberglied» singen. Santos, der am Donnerstagabend erst die zweite Probe mit dem Johanneschor bestritt, verteilte nach Atemübungen, Stimmbildung und Einsingen die Noten dieses ältesten Volksliedes, setzte sich ans Klavier, gab den verschiedenen Stimmen ihre Anfangstöne und dann sangen Sopran, Alt, Tenor und Bass «s isch äben e Mönsch uf Ärde, Simelibärg!»
Der 23-Jährige ist vor einem Jahr nach Zürich gekommen. 2021 begann er, nachdem er im Februar die Aufnahmeprüfung bestanden hatte, an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) bei Ernst Buscagne einen Masterstudiengang in Chorleitung, im Bereich Kirchenmusik. Geboren ist Francisco Santos 1999 in Portugal. Bereits als Sechsjähriger wurde er in die Grundlagen des Solfège (Gehörbildung, Musiktheorie und Notenlehre) eingeführt, lernte Klavier und Gesang. Beides, sagt er, hätte er zu seinem Beruf machen können. Aber das Singen in einer Gruppe, im Chor, habe ihm letztlich mehr Spass gemacht. «Seit ich 16 Jahre alt bin, träume ich vom Dirigieren.» 2017 begann er den Studiengang Chorleitung und Musikpädagogik an der Escola Superior de Musica de Lisboa. Im Rahmen des Erasmus-Programms absolvierte er einen Studienaustausch am Kodaly-Institut in Budapest, Ungarn.
Schwimmen in der Limmat
Inzwischen ist er seit einem Jahr in der Schweiz, schwimmt in der Limmat und im Zürichsee, spielt Fussball mit Freunden und diskutiert bei einem Glas Bier, «nicht nur über Musik», wie er sagt. Er liebt Besuche im Opernhaus oder in der Tonhalle. Dank Last-Minute-Tickets für wenig Geld sind solche Aufführungen auch für Studierende erschwinglich. «Manchmal sitzen wir in der ersten Reihe und hören die besten Musikerinnen und Musiker der Welt», schwärmt Santos.
Vor allem aber schätzt Francisco Santos die künstlerische Qualität seiner Ausbildung an der Zürcher Hochschule. Darüber hinaus biete die Schweiz genügend Möglichkeiten, sich studienbegleitend seinen Lebensunterhalt zu verdienen – auch das ein grosser Vorteil. Intensiv hatte er deutsch gelernt. Im Unterricht habe er in den ersten drei Monaten kaum etwas verstanden, sagt Santos. Auf englisch musste er nachfragen. Überall sei die Hifsbereitschaft gross gewesen. Heute fällt die Verständigung mit dem jungen Portugiesen leicht. Bei den Atemübungen allerdings zeigt er auf den Unterbauch, fragt nach dem Begriff. Er wisse, dass «Zweifel» nicht korrekt sei: «Aber wie heisst es richtig?» Die Sängerinnen und Sänger lachen. Santos spricht vom «Zwerchfell», das ist in der Aula, wo geprobt wird, allen klar.
«Bravi! Wirklich schön!»
An seiner zweiten Probe mit dem Johanneschor meistert Santos nicht nur sprachliche Hürden. Er scheut auch keine Herausforderung. Wie sonst ist es zu deuten, dass er für seinen Einstieg das berndeutsche Lied, das vom «Vreneli ab em Guggisberg» handelt, gewählt hat? Elfriede Jakob, Präsidentin des Johanneschors, wird der Journalistin später erklären, Santos habe die Auswahl für die Bettag-Lieder selbst getroffen.
Nach Übungen zu Takt und Rhythmus lobt Francisco Santos: «Bravi! Wirklich schön!» und verlangt dann doch nach ein paar technischen Korrekturen. Wie man das «ä» in «änet em Berg» ausspreche, möchte er wissen. Hier habe schliesslich jeder Kanton seinen eigenen Dialekt. Einmal zuhören reicht; der Chorleiter weiss nun wie der Laut klingen soll. Francisco Santos legt Wert auf dynamische Proben, auf einen Dialog mit dem Chor: «Auch die Sängerinnen und Sänger haben eine Meinung», sagt er. Für ihn zählen nicht alleine die richtigen Töne. Wichtig seien ihm Musikalität und Ausdruck. «Der Gesang», betont der junge Dirigent, «soll die Farbe, die Seele, auch die Tiefe der Musik zum Ausdruck bringen».
Der Dirigent ist des Lobes voll
Nach der ersten Probe ist Francisco Santos des Lobes voll. Gleich zu Beginn der zweiten Probe begrüsste er die Sängerinnen und Sänger: «Ich bin wirklich mit Eurer Arbeit zufrieden. Mir gefällt Eure Aufmerksamkeit.» Er fuhr fort: «Wir haben drei neue Stücke gelernt. Das ist sehr viel!» Er frage sich, was machen wir im November? In seinen Augen sitzt der Schalk. Denn, was sie im November machen werden, steht längst fest: Proben für Weihnachten. Auszüge aus dem Weihnachtsoratorium von Camille Saint-Säens stehen auf dem Programm. Am 25. Dezember wird der Chor das «Oratorio de Noël» im Weihnachtsgottesdienst aufführen. Es sei «laienfriendly», erklärt Santos diese Wahl. Nicht leicht, sagt er, aber auch nicht so schwer wie das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Er habe das «Oratorio de Noël» von Saint-Saëns vor einigen Jahren kennen gelernt: «Ausdrucksvolle, sehr schöne Musik.» Auch diese Komposition hat Santos für den Johanneschor ausgewählt.
Interessante Impulse für den Chor
So würden sie es im Chor schon seit langem handhaben, erklärt Präsidentin Elfriede Jakob. Santos sei der vierte junge Dirigent, der als Student der ZHdK ihren Chor leite: «Die jungen Leute kommen mit vielen Ideen». Im Chor hätten sie die Erfahrung gemacht, dass mit den jungen Dirigentinnen und Dirigenten wichtige und interessante Impulse in den Chor gelangen. Die Litauerin Izabelè Jankauskaitè war die Vorgängerin von Santos, auch sie Absolventin der ZHdK. Inzwischen assistiert Jankauskaitè dem Dirigenten des Zürcher Tonhalle-Orchesters, Paavo Järvi.
Jakob sagt, im Chor seien zahlreiche Sängerinnen und Sänger älteren Jahrgangs. Sie seien keine Profis, aber in jeder Probe würden sie sich weiterentwickeln. Sie sagt vor allem: «Wir singen mit Freude. Unsere ersten Proben mit Francisco Santos haben uns allen viel Spass gemacht.»
Heidi Hess
«Weihnachtsoratorium» als Mitsingprojekt
Im Weihnachtsgottesdienst am 25. Dezember (10.30 Uhr) wird der Johanneschor das «Oratorio de Noël» von Camille Saint-Saëns in der katholischen Kirche in Mellingen aufführen, erste Teile bereits am 1. Adventssonntag, am 27. November. Unter der Leitung von Francisco Santos singt der Chor sechs Oratorienteile gemeinsam mit einem Gesangssolisten, mit Instrumentalistinnen und Instrumentalisten und dem Organisten. Der Chor plant diesen Auftritt als Mitsingprojekt. Wer Lust hat, mitzusingen, meldet sich bei der Präsidentin Elfriede Jakob (056 491 33 31). Die erste Probe findet Ende August statt. Geprobt wird jeweils am Donnerstagabend von 19.15 bis 21.15 Uhr in der Aula der Bezirksschule Mellingen oder im Katholischen Vereinshaus an der Kleinen Kirchgasse. weitere Informationen unter: johanneschor-mellingen.ch.
Saint-Saëns hatte sein Weihnachtsoratorium 1858 innerhalb von zehn Tagen komponiert. Am 25. Dezember des gleichen Jahres fand die Uraufführung in der Kirche «La Madeleine» in Paris statt. (hhs)