«Wir wollen doch nicht schmürzele»
02.09.2022 Mellingen, Region ReusstalWie «Die Liebenden» auf den Sockel im Kirchbrunnen gestellt wurden und seither im Herzen der Stadt «Sinn haben füreinander»
Ein Bild auf einer alten Kachel, eine Idee und ein Künstler, der im hohen Alter noch einmal die Herausforderung suchte. Das ist die ...
Wie «Die Liebenden» auf den Sockel im Kirchbrunnen gestellt wurden und seither im Herzen der Stadt «Sinn haben füreinander»
Ein Bild auf einer alten Kachel, eine Idee und ein Künstler, der im hohen Alter noch einmal die Herausforderung suchte. Das ist die Geschichte einer Skulptur, die für den Kirchbrunnen gedacht war und fast in Paul Zürchers Garten gelandet wäre.
Es gab einen Moment, da war Paul Zürcher, alt Gemeindeammann von Mellingen, in grosser Sorge: Wird die kostspielige Skulptur am Ende in seinem Garten landen? Nicht, dass sie ihm nicht gefallen hätte. Im Gegenteil, er hätte sie liebend gerne in seinem Garten aufgestellt. Aber, um die Plastik zahlen zu können, hätte er wohl tief in das eigene Portemonnaie greifen müssen. Und vor allem: So war das, was er da angerissen hatte, nicht geplant.
Paul Zürcher, damals noch Präsident der Schulpflege, auch Architekt, Neuzuzüger und Altstadtbewohner, hatte von den «Liebenden» gehört. Emil Busslinger, Drogist mit einem Geschäft an der Hauptgasse in Mellingen – dort, wo sich heute die Drogerie Haus befindet – hatte ihm davon erzählt. Busslinger hatte beim Räumen seines Kellers eine alte Kachel gefunden. Darauf war ein Liebespaar abgebildet. «Eines, wie man es bisweilen auf Brunnen sieht, ein bisschen im gotischen Stil», erklärt Zürcher.
Es muss den Künstler gereizt haben
In die gleiche Zeit fielen die Vorbereitungen rund um den Geburtstag der Eidgenossenschaft: 700 Jahre wurden 1991 gefeiert. Ein Geschenk für das Städtchen schien angebracht. Warum nicht ein neuer Brunnen auf dem Kirchplatz? Er habe sich damals überlegt, dass die «Liebenden» ein Sujet für den Brunnen in der Altstadt wären, sagt Zürcher. Allerdings hatte er keine Ahnung, wieviel eine Brunnenskulptur kosten könnte. Unverbindlich wollte er einen Bildhauer danach fragen.
In der Nähe von Zürchers Architekturbüro hatte der Wettinger Künstler Eduard Spörri sein Atelier. Spörri war damals bereits 90 Jahre alt und im Aargau kein Unbekannter. Zürcher erzählt, wie Spörri ihn gleich in sein Atelier eingeladen und eine Flasche Wein geöffnet habe. Sie hätten geredet und nebenbei Glas um Glas getrunken. Der Künstler, der in seinem langen Leben viele Statuen für Brücken, Brunnen und Parks geschaffen hatte, habe ihm damals erklärt, dass Doppelfiguren selten und schwer zu gestalten seien. Er habe jedenfalls noch nie eine Zweiergruppe geschaffen. Skulpturen oder Plastiken, die einzelne Figuren darstellten, finde man häufig, auch Dreiergruppen.
Es muss den erfahrenen Künstler gereizt haben. Denn gleich nach Zürchers Besuch machte er sich ans Werk und kreierte – ohne Auftrag – eine Miniatur der beiden Liebenden.
«Mir gefiel diese Geschichte»
Heute lacht Zürcher. Aber vor über 30 Jahren habe es ihn beunruhigt, sagt er. Und zum Handeln gezwungen. Er habe, als er das fortschreitende Schaffen des Künstlers bemerkte, umgehend das Gespräch mit dem Gemeindeammann gesucht. Es wurde ein Termin vereinbart, den der Ammann allerdings verstreichen liess, ohne zu erscheinen. Daraufhin wandte sich Zürcher an die ehemalige Schulpflegekollegin Christine Egerszegi-Obrist, die inzwischen Mellinger Stadträtin, zuständig für Bildung und Kultur, und auch Aargauer Grossrätin war. Christine Egerszegi fährt fort: «Mir gefiel diese Geschichte.» Egerszegi war gerade mal ein halbes Jahr in der Mellinger Exekutive, als erste und einzige Stadträtin im Männergremium.
Auch sie habe den Künstler in seinem Atelier besucht. «Im Atelier stand eine Plastik, in feuchte Lappen gehüllt», sagt Egerszegi. «Das Modell hatte inzwischen Originalgrösse.» Ein Kulturbudget kannte Mellingen damals noch nicht. Egerszegi trug das Anliegen in den Stadtrat: «Mit gemischten Gefühlen.» Denn die Figur sei schon fast vollendet gewesen. Und die Rechnung für Figur, Sockel und Renovation des Brunnens war beachtlich – rund 50 000 Franken habe sie den Kollegen vorgeschlagen. Nie hätte sie gedacht, dass sie mit diesem Betrag Gehör finde. Der Stadtrat aber muss in Spendierlaune gewesen sein. Eine einzige Sitzung genügte: «Die Eidgenossenschaft feiert bald ihr 700-jähriges Bestehen», sei man sich einig gewesen. «Wir wollen doch nicht schmürzele.» An der Winter-Gmeind 1990 mussten auch die Stimmberechtigten überzeugt werden. Debattiert wurde nicht. Paul Zürcher erinnert sich aber an das Gebrummel im Saal. Er habe jede Hand, die in die Höhe gestreckt wurde, beobachtet. Eine Mehrheit wünschte, dass «Die Liebenden» künftig den Kirchbrunnen zieren.
Heidi Hess
Unverhüllte Liebe
Am 1. August 1991 weihte die damalige Stadträtin Christine Egerszegi-Obrist den neuen Kirchbrunnen mit diesen Worten ein:
«Liebe Mellingerinnen und Mellinger, Liebe Gäste,
So steht es nun vor Euch: ‹Unverhüllte Liebe›.
Was würde besser passen, hier, im Herzen unserer Stadt, auf dem Kirchplatz vor dem Rathaus, wo Gefühle vor Dritten bezeugt, bekräftigt und festgehalten werden: Mann und Frau in inniger Umarmung, symbolischer Ausdruck für eine Haltung, nämlich ‹Sinn haben füreinander, Glauben aneinander.›
Spörris Figuren leben in ihrer Form. Ihre Linien schwingen sich und geben den gleichen Schwung weiter, schliessen sich oft zu Kreisen. Die Linie des Arms der Frau findet ihre Fortsetzung im Unterschenkel und parallel verschoben im Oberschenkel des Mannes. Das gibt uns dieses Empfinden von harmonischem Frieden, das ist die Ausstrahlung von den Werken dieses grossen Bildhauers.
Spörris Figuren leben aber auch in ihrem Ausdruck. Das Paar setzt zu einem Kuss an, zögert noch, geküsst wird erst, wenn wir diesen Platz verlassen haben. Der Mann ist im Begriff, den Kopf zu neigen und gibt spürbar Gegensteuer mit dem linken Fuss. Nehmen sie sich Zeit, später, in aller Ruhe, solche Details zu entdecken. Das ist Bewegung gegossen, festgehalten.
Eduard Spörri hat mir einmal gesagt, es sei etwas vom Schwierigsten, eine Zweiergruppe zu gestalten, eine die lebt und nicht schwerfällig wirkt. Er hat diese Herausforderung hervorragend gelöst mit Zwischenräumen, die von jedem Blickwinkel her sichtbar sind. Das ist Kunst. Jedes von diesen beiden könnte für sich sein. Aber jedes allein ist doch nichts und kann auch nichts sein. So ist Liebe.
Spörris Figuren sind von klassischer Schönheit. Es ist ein Liebespaar, für alle gleich ersichtlich. Das ist es, dazu müssen wir stehen. Bei einer abstrakten Plastik würden wir jetzt alle etwas Verschiedenes herauslesen. Hier wird uns ein Bekenntnis abgerungen, zur eigenen Absicht, letztlich zu unseren eigenen Wurzeln. Diese Unausweichlichkeit ist nicht gross im künstlerischen Zeitgeist, aber hier gehört sie für mich zu diesem bedeutenden Tag, dem 700-jährigen Geburtstag unseres Landes.
Lieber Eduard Spörri
Du hast uns mit diesem grossen Werk gezeigt, dass die Jugend nicht ein Abschnitt des Lebens ist, sondern ein Zustand der Seele. Man ist nicht alt, wegen der einfachen Tatsache, dass man eine bestimmte Anzahl Jahre gelebt hat, sondern erst dann, wenn man die Bereitschaft zum Schöpfen, zum Mitvollziehen von Gefühlen aufgibt und den Körper der Bequemlichkeit und der Resignation hingibt, sich nichts mehr zutraut. (...) Dieses Paar wird uns immer wieder aufrufen zu diesem Allermenschlichsten in uns: ‹Sinn haben füreinander, Glauben aneinander.›»


