«Wie können wir das Wasser künftig managen?»
25.11.2022 Region ReusstalDie Stiftung Reusstal wurde 1962 gegründet. Dank Engagement und Ausdauer wurde das Reusstal zum Smaragd-Gebiet in der Schweiz
Es hätte anders kommen können: Eine lange Kette von Kraftwerken in der Reuss, Acker neben Acker. Das aber verhinderten eine Stiftung, eine ...
Die Stiftung Reusstal wurde 1962 gegründet. Dank Engagement und Ausdauer wurde das Reusstal zum Smaragd-Gebiet in der Schweiz
Es hätte anders kommen können: Eine lange Kette von Kraftwerken in der Reuss, Acker neben Acker. Das aber verhinderten eine Stiftung, eine Gesetzesinitiative und eine Abstimmung. Josef Fischer über Erfolge und Herausforderungen.
Der Blick auf die «Stille Reuss» ist hinreissend. Sogar an diesem grauen Herbsttag. Der Altlauf mit Schilfgürtel, Hecken und Tümpeln bietet ein besonderes Schauspiel. Es ist der Blick aus Josef Fischers Büro im Zieglerhaus an der Hauptstrasse durch Rottenschwil. Fischer, Geschäftsleiter der Stiftung Reusstal, ist sich des Privilegs bewusst: «Hier ist es im Sommer, im Herbst und im Winter schön: Ganz besonders aber im Frühling, wenn alles spriesst und blüht.»
Der Kampf gegen die Wasserkraft
Dass Fischer heute von seinem Arbeitsplatz aus diese Aussicht geniessen kann, ist alles andere als selbstverständlich. Dafür mussten vor über 60 Jahren viele Menschen hartnäckig und ausdauernd kämpfen. Fischer greift zu einer alten Karte, zeigt einen Wasserwirtschaftsplan aus dem Jahre 1959: Darauf reiht sich zwischen Emmemündung und Aare ein Wasserkraftwerk ans andere, eine ganze, lange Kette – fünfzehn an der Zahl.
Geplant war damals nicht nur, die Kraft des Wassers zu nutzen und die Reuss schiffbar zu machen. Entlang der Aare sollte auch grossflächig entsumpft werden. Seit jeher existierten Bestrebungen, den Fluss zu begradigen und Ackerland zu gewinnen. Denn früh hatten die Landwirte erkannt, dass diese Böden fruchtbar sind. Im wiederkehrenden Hochwasser allerdings gingen ihre Ernten regelmässig unter. Andererseits sind die feuchten Böden wundersame Biotope, Auen mit Vögeln, Moore mit Insekten und Amphibien. Und weiterhin mäandriert dort die Reuss. Als 1962 eine Melioration drohte, die einem «Biotop-Kahlschlag» gleichgekommen wäre, war der Konflikt programmiert.
Nun ist es nicht so, dass Josef Fischer die Ambitionen der Landwirte im historischen Kontext nicht verstehen könnte. «Es braucht manchmal Kompromisse», sagt er. Auch heute noch. Zuhören, diskutieren und einen Konsens finden sei wichtig, besonders mit den lokalen Landwirten, deren Wissen und Erfahrung eingebunden werden müssen, um das fragile Gleichgewicht zu erhalten. «Wir müssen auf sektorielles Denken verzichten, auch Naturschützer müssen bisweilen liebgewonnene Pfade verlassen.» Und doch stünde Josef Fischer nicht hier – seit über dreissig Jahren als Geschäftsführer der Stiftung Reusstal – wären die Kraftwerke damals tatsächlich gebaut und das Land entsumpft worden.
Das grosse «Ja» für die freie Reuss
Dass alles anders kam, ist Ende der 1950er-Jahre engagierten Männern und Frauen aus Heimat- und Landschaftsschutzkreisen zu verdanken. Unter ihnen auch der Oberrohrdorfer Lehrer und Naturschützer Erich Kessler. Sobald die Pläne für Kraftwerke und Trockenlegung nämlich bekannt wurden, standen diese Leute auf, schlossen sich ab 1962 in der Stiftung Reusstal zusammen und wehrten sich. Die Stiftung sollte das mittelländische Reusstal als Landschaft mit natürlichem Flusslauf erhalten und gestalten, Reservate schaffen und Rücksicht nehmen «auf ein bodenständiges Bauerntum».
1963 lancierten die Gründer der Stiftung die Gesetzesinitiative «Freie Reuss» und forderten eine unverbaute Flusslandschaft. Es kam im Aargau zur Abstimmung und mit 50 571 Ja gegenüber 14 135 Nein stimmte eine deutliche Mehrheit dieser Initiative im Mai 1965 zu. 1969 wurde das Gesetz über Hochwasserschutz, Entwässerung und Bodenverbesserung im Gebiet der Aargauer Reussebene südlich Bremgarten angenommen. Es löste die sogenannte Reusstalsanierung aus. Dabei verlangten die Naturschutzorganisationen Verbindlichkeiten und entwickelten Ideen, wie sie Landbesitzer werden konnten. Gessetzlich festgelegt wurden damals «circa 250 Hektar» an Reservatsfläche. Die Stiftung kaufte Parzellen und investierte in die Biodiversität. Heute umfasst das Gebiet im Aargau rund 300 Hektar Naturschutzflächen, die mehrheitlich im Gesamteigentum von Kanton und Stiftung Reusstal sind. Geschäftsleiter Fischer würdigt die damalige Weitsichtigkeit: «Es braucht immer wieder Leute, die gross denken und Visionen entwickeln.»
Wie Erich Kessler gross dachte
Solch ein Visionär war auch der 2007 im Alter von 79 Jahren verstorbene Erich Kessler, Mitbegründer der Stiftung Reusstal. Bereits 1961 hatte der Oberrohrdorfer den Zustand der Moore und Flachmoore untersucht. Der sogenannte «Kessler-Index» dokumentierte am Beispiel von Vögeln, Schmetterlingen, Schnecken und Pflanzen die Entwicklung der Artenvielfalt. Über Jahre hinweg wurden über Kontrollprojekte Veränderungen von Tieren und Pflanzen im Wald, in der Landwirtschaft oder im Siedlungsraum beobachtet. Kesslers Index gilt als Vorläufer des heute schweizweiten «Biodiversitätsmonitoring».
Kessler, sagt Josef Fischer, habe nicht nur eine Gabe für die Wissenschaft gehabt, es sei ihm auch gelungen, den Menschen deren Inhalte näher zu bringen: «Das ist sehr eindrücklich.»
Das Reusstal ist eines von 37 Schweizer Smaragd-Gebieten. Es zählt zum europaweiten Netz, das besonders wertvolle Lebensräume und Arten schützt. Dennoch bleibt 60 Jahre nach Gründung der Stiftung viel zu tun.
Zwar «konnte man viel sichern» im interkantonalen Reusstal, so Fischer. In einem vier Kilometer breiten Band links und rechts entlang der Reuss finden sich acht Auen, 27 Flachmoore, drei Hochmoore, eine Moorlandschaft (Maschwander Allmend), 74 Amphibien-Laichgebiete, ein Wasser- und Zugvogelreservat (Flachsee). Aber es sei auch viel verloren gegangen: «Die Fläche an Feuchtgebieten entlang der Reuss war einst viel grösser».
Nattern und ein «verruckter Siech»
Ein wichtiger Pfeiler in der Naturschutzarbeit der Stiftung Reusstal ist mit dem Betrieb des Zieglerhauses seit 1981 die Umweltbildung. Von hier aus besuchen Schulklassen Auen und Moore. Die Mädchen und Buben entdecken dann schon mal eine Ringelnatter. Nicht ohne List. Denn die Nattern suchen schon bei kleinen Erschütterungen das Weite. Ein bekannter Trick ist deshalb das Auslegen von Wellblech, unter welches sich die Schlangen verkriechen. Kommen Klassen auf Exkursion, wird das Blech entfernt, fluchtartig verschwindet die Natter. Jahre später erinnerten sich die Mädchen und Buben an solche Erlebnisse, sagt Fischer. Erst kürzlich habe er einen jüngeren Autostopper mitgenommen, erzählt er und lacht, weil ihm dieser von einem Exkursionsleiter im Naturschutzgebiet erzählt habe. Dieser «verruckte Siech», so der Autostöppler, habe damals eine Schlange unter einem Blech hervorgezaubert.
Natürlich gehe es darum, Besucherinnen und Besucher bei solchen Exkursionen zu überraschen, sagt Fischer. Vor allem aber soll aufgezeigt werden, warum Wildtiere und -pflanzen intakte Lebensräume brauchen. Er spricht vom Moorbläuling, der hier über Riedwiesen mit Lungen-Enzianen flattert und seine Eier auf die seltene Enzianart legt. Jede Art braucht ihr angemessenes Minimalareal, das vernetzt ist, damit sie langfristig überleben kann. Es sieht nicht gut aus für viele Feuchtgebiete. Auch im Reusstal braucht es zusätzliche Trittsteine.
Schliesslich wagt der Geschäftsleiter, der 2024 pensioniert wird, einen Ausblick, spricht vom Klimawandel, von bald gänzlich abgeschmolzenen Gletschern im Einzugsgebiet der Reuss. Es zeichnet sich Wasssermangel ab genauso wie neue Hochwassergefahren. «Wie können wir das Wasser künftig managen?», fragt Fischer. «Das war in der Vergangenheit im Reusstal eine entscheidende Frage und wird in Zukunft eine der grössten Herausforderungen sein.»
Heidi Hess
Am Sonntag, 4. Dezember, ist die Dauerausstellung zu Auen und Riedwiesen im Naturschutz-Informationszentrum Zieglerhaus Rottenschwil von 13 bis 16 Uhr geöffnet.
Kehricht in die Reuss
Fast wäre die Stille Reuss (Foto oben) zur Kehrichtdeponie verkommen. Zumindest existierten dafür Bestrebungen, wie ein 2009 erschienenes Jahrheft «Ent-Sorgen» der Stadt Schlieren festhält.
1962 gab es in Schlieren ein Projekt «Stille Reuss als Kehrichtdeponie» – offene Kehrichtdeponien waren bis in die 1960er-Jahre die Regel. In der Schlieremer Kehrichtdeponie fehlte der Platz für weiteren Abfall. Die Suche nach Ersatz gestaltete sich schwierig, weil der Kanton Zürich zum Schutz des Grundwassers Kehrichtablagerungen in Grundwassergebieten verboten hatte. Noch nicht in Betrieb war damals die geplante Kehrichtverbrennungsanlage Limmattal. Die Lösung lautete: «Ausweichen auf das Freiamt im Aargau». Die Gemeinde Rottenschwil soll damals den Altlauf «Stille Reuss» als Deponie angeboten haben. Als die Gemeindevertreter von Schlieren das Gebiet aber besichtigten, fand man es schade, den «hübschen Altlauf mit Müll zuzuschütten». Die Stadt Schlieren fand eine Deponie auf Besenbürer Gebiet im «Steinenmoos». Rottenschwil blieb verschont.
Heute, 60 Jahre später, wirbt die Gemeinde mit den Worten: «Herzlich willkommen in Rottenschwil – wo die Natur zuhause ist». (hhs)


