Tiergeschichten von Rudolf Hug
Seit sechs Tagen warte ich im Wapusk-Nationalpark in Kanada darauf, dass eine Eisbärin ihre Höhle verlässt und ihre Jungen ans Tageslicht bringt. Vor fünf Monaten hat die Bärin eine Erdhöhle gegraben und sich ...
Tiergeschichten von Rudolf Hug
Seit sechs Tagen warte ich im Wapusk-Nationalpark in Kanada darauf, dass eine Eisbärin ihre Höhle verlässt und ihre Jungen ans Tageslicht bringt. Vor fünf Monaten hat die Bärin eine Erdhöhle gegraben und sich einschneien lassen. Nach nur acht Wochen hat sie zwei kleine, nackte und blinde Bärchen geboren und während drei Monaten gesäugt – ohne zu fressen oder zu trinken. Nun ist es Zeit, die Höhle zu verlassen, die Kleinen an die Umwelt zu gewöhnen und sich dann auf den Weg zum zugefrorenen Meer zu machen, um endlich wieder jagen und fressen zu können. Von zehn Uhr morgens bis zur Dämmerung warte ich auf den magischen Moment – und das bei minus 45 Grad! Nur noch zwei Tage habe ich Zeit, bevor ich zurück nach Hause muss. Doch dann, am siebten Tag, kommt sie endlich heraus. Sie erkundet mit ihren zwei Babys die Umgebung, lehrt sie auf dem Schnee zu gehen, zu klettern, sich zurechtzufinden. Das ist anstrengend für die zwei Bärchen, und so hält die Mutter immer wieder inne und legt sich so hin, dass ihr Körper den Jungen Schutz und Wärme bietet. Aber die zwei wollen nicht schlafen, sondern möchten nach der langen Zeit in der dunklen Höhle endlich die Welt entdecken.
RUDOLF HUG
Rudolf Hug (72) lebt seit 28 Jahren in Oberrohrdorf. Nach seinen beruflichen und politischen Aktivitäten befasst er sich heute intensiv mit der Fotografie.
Neben mehreren Fotoexpeditionen pro Jahr publiziert er und hält Vorträge.
Die Bilder der Rubrik «Tiergeschichten» sind ausgewählt aus Hugs Buch «Tiergeschichten aus aller Welt»; erhältlich in Buchhandlungen, bei der Papeterie Calmart in Fislisbach oder bei Rudolf Hug direkt.
Informationen: rudolf-hug.ch