«Ich bin aufgewachsen mit den Geschichten»
20.01.2023 Mellingen, Region ReusstalDer Künstler Samuel Ernst, der seit 2018 im Städtli lebt und arbeitet, ist der Urenkel des Badener Künstlers Hans Trudel
Ein Lesertipp brachte es ans Licht: Der Urenkel von Hans Trudel wohnt in der Mellinger Altstadt. Samuel Ernst ist selbst Künstler und verwahrt grosse ...
Der Künstler Samuel Ernst, der seit 2018 im Städtli lebt und arbeitet, ist der Urenkel des Badener Künstlers Hans Trudel
Ein Lesertipp brachte es ans Licht: Der Urenkel von Hans Trudel wohnt in der Mellinger Altstadt. Samuel Ernst ist selbst Künstler und verwahrt grosse Teile von Trudels Nachlass. Darunter Tagebücher, Fotos und zahlreiche Kunstwerke – auch Ansichten von Mellingen.
Samuel Ernst erwartet mich in seinem geräumigen Atelier in der Bruggerstrasse 14. Auf mehreren Tischen in der Mitte des Raumes stapeln sich Kisten, Kunstmappen und Bücher – alles Dinge aus dem Nachlass von Hans Trudel. Hier und da bevölkern Skulpturen des Künstlers die Ecken: «Der Trudel braucht viel Platz», lacht Ernst und entschuldigt sich für die derzeitige Unordnung. Er sei gerade am Zügeln vom benachbarten Wohnhaus in sein Atelier, wo alles für ihn besser erreichbar sei.
Der 57-Jährige, der für seine expressionistischen Motorsägen-Kunstwerke bekannt ist, ist der Enkel von Hans Trudels ältester Tochter Wally. Sie war mit dem Architekten Hermann Ernst verheiratet. Samuel Ernst, der Urenkel des Künstlers, war selbst schon von Kind an mit dessen Kunst umgeben, wie er berichtet: «Die Holzschnitte hatten wir haufenweise zu Hause. Viele Figuren aus Holz und Bronze sind ebenfalls herumgestanden», erinnert er sich. Er selbst besitzt noch heute einige persönliche Erinnerungsstücke, die er teilweise schon in seinem damaligen Kinderzimmer in winzigen Schächtelchen aufbewahrte: Kleine Köpfe und Arme von Modellen für spätere Werke Trudels. Damals für ihn besonders eindrücklich: Zwei handgrosse rote Holzmodelle mit Fratzengesichtern, welche die Vorlage für die noch heute existierenden Türknöpfe aus Bronze am Stadthaus in Baden bildeten.
Unzählige Skizzen, Drucke sowie auch einige Skulpturen und Bilder zählen ausserdem zum Nachlass, den Ernst verwahrt. Denn die Kisten in Mellingen sind nur ein kleiner Teil von Trudels Hinterlassenschaften. Weitere Schätze lagern in einem Depot in Baden: «Die Holzschnitte und Platten habe ich alle bei mir», sagt er mit Hinweis auf den Holzschnitt mit der Mellinger Stadtansicht, die der «Reussbote» kürzlich veröffentlichte («Reussbote», 13. Januar). «Von Mellingen gibt es vor allem Holzschnitte», weiss der Urenkel. Die schönsten habe er auf Japan-Papier. Diese befänden sich aber leider im Lager in Baden.
Eine recht ausdrucksstarke und leicht frivole Zeichnung des Mellinger Hexenturms zaubert er dann aber doch aus dem «Umzugsgut» hervor: Wie auf dem kürzlich abgedruckten Stadtmotiv aus dem Jahr 1923, fehlt dem Hexenturm darauf sein heute charakteristisches Spitzkegeldach. Dieses wurde laut Historiker Rainer Stöckli nach einem Brand im Jahr 1902 erst 1951 wieder ersetzt – also nachdem Trudel sein Atelier im Grumetweg in Mellingen bereits aufgegeben hatte. Von 1919 bis 1926 hatte der Badener Künstler seine Werkstatt im Städtli. Details aus seinem Leben in dieser Zeit kennt Samuel Ernst allerdings nicht, obwohl er auch den gesamten schriftlichen Nachlass seines Urgrossvaters, wie Tagebücher und Briefe, besitzt. «Er ist gut vernetzt gewesen, obwohl er zeitlebens am Hungertuch genagt hat», so Ernst. Trudel sei sogar in Briefkontakt mit Winston Churchill gestanden.
Ein sehr ernsthafter Mann
Auch in den Erzählungen innerhalb der Familie war Hans Trudel stets präsent: «Ich bin aufgewachsen mit den Geschichten von Trudel», berichtet Samuel Ernst. Den Erzählungen nach sei Hans Trudel ein sehr ernsthafter Mann gewesen. Sein Vater, David Ernst, habe hauptsächlich «Schelmengeschichten» erzählt, wie sie dem strengen Grossvater früher Streiche gespielt hätten. Einiges spricht auch dafür, dass der Künstler seine Prioritäten nicht unbedingt auf die Familie legte: «Er hat geschafft, wie ein Wahnsinniger. Seine Frau musste für die Goofen sorgen, weil er ausgestiegen ist», sagt Trudels Nachkomme. Dennoch hatte zumindest Trudels Tochter Wally, offensichlich ein engeres Verhältnis zum Vater: «Meine Oma war viel mit ihm unterwegs, sie durfte ihn begleiten – nach Madrid und Rom», berichtet Samuel Ernst.
Künstler-Gen liegt in der Familie
Vielleicht war es ja das gemeinsame Interesse für Kunst, das die beiden besonders verband. Seine Grossmutter habe selbst gemalt und ihr Mann, der Architekt Hermann Ernst, habe sich sehr für Kunst begeistert, erzählt der Wahl-Mellinger, der in Baden und Wettingen aufgewachsen ist und seit 2018 im Städtli wohnt. So sei überliefert, dass die beiden sogar einmal Picasso getroffen hätten. Das Künstler-Gen scheint also in der Familie vererbt worden zu sein. Gibt es vielleicht sogar Ähnlichkeiten zwischen seiner Kunst und der des Urgrossvaters? «Gewisse Leute sagen, dass sie in meinen Figuren eine Weiterführung meines Urgrossvaters erkennen», sagt Ernst. Beabsichtigt sei das aber nicht. «Ich habe es einfach in mir. Ich bin sicher von ihm inspiriert, aber ich bin befreiter als er, aber trotzdem gefangen», fügt der Bildhauer etwas mysteriös an. Bei ihm müsse es ausserdem rassig gehen: «Etwas Schönes entsteht nur, wenn ich etwas kaputt mache», witzelt er in Bezug auf seine Motorsägen-Kunstwerke, die er aus ganzen Baumstämmen herausschält. Bewahren will Samuel Ernst dagegen den Nachlass seines Urgrossvaters zu dem, unter anderem, auch zahlreiche Fotos zählen. In einer Werkmappe finden sich zum Beispiel seltene Fotos von der Entstehung des Steinlöwens, der noch heute die Front des Restaurant Löwen in der Hauptgasse ziert: «Ich habe eine Verantwortung für die Sachen», sagt der Künstler, während er die Fotos wieder gewissenhaft zurückpackt.
Michael Lux




