«Ich wusste gar nicht, dass es den Beruf gibt»
31.03.2023 Niederrohrdorf, Region RohrdorferbergNadine Villiger ist Innendekorateurin mit Schwerpunkt Polsterin und beherrscht noch die traditionellen Handwerkstechniken
Nadine Villiger (34) hat bereits 17 Jahre Berufserfahrung. Im ausgebauten Kuhstall der Grosseltern machte sie sich selbstständig und polstert mit ihrem Team so ...
Nadine Villiger ist Innendekorateurin mit Schwerpunkt Polsterin und beherrscht noch die traditionellen Handwerkstechniken
Nadine Villiger (34) hat bereits 17 Jahre Berufserfahrung. Im ausgebauten Kuhstall der Grosseltern machte sie sich selbstständig und polstert mit ihrem Team so ziemlich alles – vom antiken Einzelstück bis hin zur kompletten Barlounge oder zur Sitzgruppe einer Segelyacht.
Mir war klar, ich will etwas Handwerkliches machen, wo man sich nicht die Hände schmutzig macht», erinnert sich Nadine Villiger, wie sie zu ihrem heute seltenen Beruf kam. Sie sei ausserdem immer schon sehr kreativ gewesen und brauche viel Bewegung. Auf den Beruf der «Innendekorateurin mit Schwerpunkt Polsterin», wie die genaue Bezeichnung lautet, stiess sie durch Zufall: «Ich wusste gar nicht, dass es den Beruf gibt», gibt sie zu. Erst als er ihr nach dem Abschluss der Realschule im Berufsinformationszentrum unter vielen anderen vorgestellt worden sei, habe sie gemerkt: Das ist es! Vier Jahre dauerte die Lehre insgesamt. Im Unterschied zur dreijährigen Lehre zur Industriepolsterin umfasst die Ausbildung alle Fachbereiche von der Polsterei über Bodenbelag bis hin zum Vorhangnähen und Montage: «Innendekorateurin geht zurück auf das traditionelle Handwerk», so Villiger, die parallel zur Lehre beim «Polsterbetrieb Franz Buck Wohnfreude» in Niederrohrdorf die Berufsschule in Lenzburg besuchte. Heute gibt es nur noch zwei Berufsschulen für die Lehre mit Blockunterricht: Chur und Selzach.
Alles begann im alten Kuhstall
Nach vier Jahren als Angestellte erfüllte sich Villiger den Traum von der Selbstständigkeit. Mitten im Dorf, in der Holzrütistrasse, richtete sie ihr «Polsterwerk» ein. Dazu baute sie mit Hilfe von Familie und Freunden in monatelanger Feierabendarbeit den ehemaligen Kuhstall der Grosseltern zur Werkstatt um: «Wir haben alles selbst gemacht, bis auf die Fenster», erzählt die verheiratete Mutter von zwei kleinen Kindern. Die ersten Jahre arbeitete sie noch ganz allein in ihrer Werkstatt, mittlerweile hat sie in Sabrina Meier und Stephanie Hauri zwei zuverlässige Mitarbeiterinnen gefunden. Ein grosser Teil ihrer Kundschaft sind, laut Villiger, Privatkunden: «Viele kommen mit Erbstücken, die noch in gutem Zustand sind», sagt sie. Es müssen aber nicht immer teure Designerstücke sein, manchmal kämen die Leute auch mit ihren Lieblingsstücken von Ikea, die nicht mehr produziert würden, so Villiger.
Das ganze handwerkliche Geschick erfordern jedoch antike Stücke mit traditioneller Polsterung: «Auf die Jutegurte werden Sprungfedern genäht, die man auf die richtige Position runterschnürt, darauf kommt eine Façon mit Kokosfasern, die mit aufwendigen Stichen passend geformt wird und am Schluss eine feine Schicht Rosshaar zur Verfeinerung», erklärt Villiger den komplizierten Aufbau eines handgefertigten Sitzpolsters: «Das ist die Königsdisziplin, das können heute nicht mehr viele», sagt sie ein wenig stolz. Die Verarbeitung sei zwar handwerklich viel aufwendiger, dafür aber auch langlebiger als Schaumstoff. Für die Lieblingsmöbel ihrer Kunden stehen eine Vielzahl an verschiedenen Stoffen und Ledersorten zur Auswahl. Stapelweise Musterbücher mit teils erlesenen Stoffen aus Deutschland oder England darf man in der Werkstatt durchstöbern, die sich derzeit in einem Provisorium befindet. Denn die eigentlichen Werkstatträume werden aktuell wieder umgebaut, sodass künftig alle Arbeiten auf einer Ebene erledigt werden können. «Wir kommen aber auch zu den Kunden nach Hause und beraten sie», erzähl Villiger.
Vom Designerstück zur Fitnessbank
Denn die Innendekorateurin bezieht nicht nur Einzelstücke, beispielsweise von bekannten Designern, sondern ganze Esszimmer- oder Couchgarnituren. Gewerbliche Kunden beauftragen das Team ebenfalls häufig. Gerade beziehen die drei Sitzbänke für ein Fitnessstudio. Und auch das Mobiliar aus dem Hotel Linde in Fislisbach wird hier wieder aufgehübscht. Restaurantund Barausstattungen gehören genauso zum Portfolio, wie Sitze für Reisemobile oder sogar Bootsbestuhlungen. Das Schöne an ihrer Arbeit sei, neben der Kreativität, die Vielseitigkeit, finden die Drei. Und was braucht es sonst noch für den Beruf? «Es braucht handwerkliches Geschick und räumliches Vorstellungsvermögen», so Villiger. Ein wenig Kraft braucht es natürlich auch – etwa beim Auftrennen oder beim Beziehen mancher Stoffe. Denn ausser der speziellen Overlook-Nähmaschine und einer Druckluftpistole für die Bostitch-Klammern gibt es keine grösseren Maschinen. Gearbeitet wird mit Blei- oder Lederstift zum Schablonieren sowie Schere und Seitenschneider. Echtes Handwerk eben.
Michael Lux