Arbeiten und Leben vor 125 Jahren im Reusstal
26.05.2023 Serie im ReussboteEndlich geht es wieder aufwärts!
Wirtschaft: Zuversicht nach der Grossen Depression in Industrie und Landwirtschaft
Als der «Reussbote» zum ersten Mal auf den Küchentischen der Vorfahren lag, im Jahre 1898, erholte sich unsere ...
Endlich geht es wieder aufwärts!
Wirtschaft: Zuversicht nach der Grossen Depression in Industrie und Landwirtschaft
Als der «Reussbote» zum ersten Mal auf den Küchentischen der Vorfahren lag, im Jahre 1898, erholte sich unsere Gegend gerade von einer schwierigen Phase. 20 Jahre vorher hatte europaweit die Grosse Depression eingesetzt. Der wirtschaftliche Abschwung zeigte sich in der ganzen Schweiz vor allem in einem Abwärtstrend bei den Investitionen in den Hochbau. Häuser wurden kaum noch gebaut. Dazu kamen zahlreiche Konkurse von Firmen, beispielsweise der von 1877 bankrott gegangenen Nationalbahn. Die neue Eisenbahntransversale durchs Mittelland hätte ein Gegenprojekt zu den vom politischen Freisinn getragenen Bahngesellschaften werden sollen. Aber die alternative Streckenführung, die zwischen Winterthur und Yverdon kleinere Städte verbunden hätte, entpuppte sich als zu kostspielig. Die damit angeschnittenen Täler und abgelegeneren Gebiete abseits der Hauptachsen brachten weder die nötigen Finanzen auf noch das erhoffte Volumen im Güterverkehr. Das sprichwörtliche Eisenbahnfieber war zu einer Seuche geworden.
Das gilt auch für das untere Reusstal – und besonders für die Stadt Mellingen. Sie hatte während Jahrzehnten am Nationalbahn-Krach schwer zu tragen und musste zur Tilgung der Schulden den Gemeindewald an den Kanton abtreten. In einer Zeit, als der Wald eine Art Goldgrube war. Denn aus dem Forst kam nicht nur das Holz zum Bauen, sondern auch das zur Herstellung von Werkzeugen und Möbeln sowie jenes zum Heizen. Gerade für die arme Bevölkerung waren Beeren, Pilze und Heilkräuter essenziell zum Überleben. Nicht ohne Grund erinnerte man sich lange an gute Pilz- oder Beerenjahre. Auch Wohlenschwil, Büblikon und Mägenwil zogen bei der Nationalbahn einen Schuh voll heraus und mussten während Jahren höhere Steuern einziehen.
Ach, du liebe Reuss …
Wie stark sich die Grosse Depression auf die Bevölkerungszahl auswirken kann, zeigt das Beispiel der Gemeinde Tägerig. Im Dorf lebten 1850 fast tausend Einwohnerinnen und Einwohner, 1900 noch 606. Wer konnte, zog weg, dorthin wo es Arbeit gab. Hauptgrund dafür, das hält die Tägeriger Ortsgeschichte fest, war der Rückgang bei der Produktion von Amlung. Es handelte sich dabei um ein aus Getreide gewonnenes Stärkepulver, das als Leim bei Buchbindern, Tapezierern, Wäscherinnen oder in der Zigarrenproduktion gefragt war. Die schwindende Nachfrage traf Tägerig hart, war es doch ein Zentrum der Amlung-Herstellung. Erst mit der Zeit konnten zwei Zulieferbetriebe der Wohler Strohindustrie wieder Arbeitsplätze schaffen. So schlimm die Krise im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war, Auswanderung nach Übersee aus purer Not wie zur Jahrhundertmitte gab es praktisch nicht mehr.
Doch mit den 1890er-Jahren brach mit einem wirtschaftlichen Aufschwung auch in unserer Gegend eine Phase der Zuversicht an, wie sie für die ganze Belle Epoque prägend war. Besonders die Industrie profitierte von neuen Impulsen. Die erste Welle der Industrialisierung, als an vielen Orten Baumwollspinnereien und Webereien entstanden, war spurlos an der Region vorbeigezogen. Die liebe Reuss ist für diesen Zweck entweder zu wild oder zu unstet. Höchstens etwas Heimarbeit in der Textil-, Bürsten-, Zigarren- oder Geflechtindustrie besserte das oft karge Einkommen vieler Familien auf.
Ein Hoch auf die Metallindustrie
Als die Metallindustrie zu blühen begann, profitierte auch unsere Gegend. In Niederrohrdorf standen 1889 bereits 48 Arbeiter auf der Lohnliste der Metallwarenfabrik Castor Egloff und Söhne. Zehn Jahre später waren es doppelt so viele. 1891 nahm überdies die Brown, Boveri & Cie. in Baden ihren Betrieb auf. Die vom Volksmund «Dynamo» genannte Fabrik wuchs in der Sparte Stromherstellung ungeahnt. Dutzende von Vätern, Brüdern und Onkeln fanden dort als angelernte Schlosser, Dreher und Wickler ein Auskommen. Zwar war Baden etwas weiter entfernt, aber mit langen Fussmärschen, einer kurzen Bahnfahrt oder mit dem Velo standen die Arbeiter rechtzeitig zum Arbeitsbeginn um sechs Uhr morgens an der Werkbank.
Während die Männer lange Arbeitstage in der Fabrik krampften, kümmerte sich die Familie um Haus, Hof und Garten. Manches Heimetli war durch Erbteilung zu einem Kleinstbetrieb geschrumpft, der im besten Fall noch zur Selbstversorgung ausreichte. Ehefrau, Grossvater und Kinder besorgten den Stall und mit viel Handarbeit die verschiedenen Parzellen, oft in Grösse und Form von Hosenträgern. Von einer Regulierung und Zusammenlegung der Güter war man noch weit entfernt.
Rückgrat Landwirtschaft
In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren vielerorts dreiteilige Bauernhäuser entstanden, die viele Funktionen unter einem Dach vereinten. Vom Wohnteil mit einem Kachelofen zum Backen und Heizen über den Gewölbekeller zur Lagerung von Most, Brot und Rüben zur Scheune zum Aufbewahren von Heu, Stroh, Getreide und Holz bis zum Stall für wenige Kühe und Schweine. Nur Wenige konnten sich ein Zugpferd leisten. Die Kuh Lisi tat es auch. Aufgebaut waren die Bauernhöfe unserer Gegend als Mischbetriebe. Zu ihnen gehörten Äcker, Wiesen, Weiden, Baumgärten, oft ein Rebberg und auch etwas Wald. Das bedeutete, dass bei einer Missernte von den anderen Nahrungsmitteln noch genug vorhanden war. Die Landwirtschaft bildete damals das Rückgrat der Nahrungsmittelversorgung, mindestens für die eigene Familie.
Aber sie war auch sehr dynamisch. Denn die Industrialisierung brachte auch eine Revolution des Transports mich sich. Plötzlich war Weizen aus der Ukraine und Nordamerika viel billiger zu haben als das Getreide aus dem Aargauer Kornland, zu dem auch das untere Reusstal zählte. Dampfschiffe und Eisenbahnen schafften es rasch und in grossen Mengen herbei. Deshalb mussten sich die Bauernfamilien etwas einfallen lassen. Sie verlegten sich auf die Milchwirtschaft, legten statt Äcker Kunstwiesen an, pflegten ihre Weiden und fütterten immer mehr Kühe im Stall. Mist und Jauche machten die Böden fruchtbar. Die Fachleute kennen diesen Vorgang als «Vergrasung des Mittellandes». Damit begann die grosse Zeit von Schweizer Milch, Schokolade und Käse. Es entstanden Käsereien auch im Flachland. Beispielsweise in Künten, wo sich die Milchbauern 1861 zu einer Käsereigenossenschaft zusammenschlossen und mit ihrem Tilsiter bedeutende Erfolge feierten. Die tüchtigen Käser, nicht selten Auswärtige, mussten ihr Amt Jahr für Jahr ersteigern und hatten darüber zu wachen, dass es keine Milchfälschungen gab. Erste einfache Maschinen zum Mähen oder Heuwenden wurden immer noch von Tieren gezogen. Handarbeit mit Rechen, Sensen und Hauen war an der Tagesordnung.
Etwas schlechter lief der Weinbau, der etwa ab 1880 für ein halbes Jahrhundert eine regelrechte Rebbaukrise erlebte. Auf einmal merkten die Leute, wie fein der importierte Wein schmeckte. Jedenfalls besser als der Rippenzwicker aus dem eigenen Fass. Dazu gab es seit 1850 Falkenbräu, seit 1897 Müllerbräu – beide aus Baden – bald auch das Feldschlösschen-Depot in Mägenwil. Die drei Aargauer Biere löschten den Durst sowieso besser als der vergorene Rebensaft. Dazu kam noch der Schädling namens Reblaus, der allerdings vor allem eine billige Ausrede der Winzer war, die den Wandel verschlafen hatten. Was die Rebbaukrise für Birmenstorf, die zweitgrösste Rebbaugemeinde des Bezirks Baden, bedeutete: Anfänglich umfasste das Rebareal 36 Hektaren, am Schluss noch zehneinhalb.
Singen, Turnen, Schiessen, Musizieren
Vereinsleben: Einüben von Demokratie und Politik
Unsere Altvorderen arbeiteten um 1898 im Grunde genommen unablässig. Höchstens am Sonntag blieb zwischen Kirchgang, Mittagessen und Stallarbeit etwas freie Zeit. Der «Reussbote» war immer ein guter Vorwand, sich hinzusetzen, um das Neuste zu erfahren. Fest- und Feiertage brachten die Leute zusammen. Bauernfamilien hatten je nachdem im Winter etwas weniger zu tun und scharten sich um die warme Chouscht.
Etwas besser gestellt waren die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Industrie. Das eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 verbesserte ihre Hygiene, Arbeits- und Rechtssicherheit. Aber vor allem beschränkte es die Dauer eines normalen Arbeitstages auf elf Stunden – wohlverstanden an sechs Tagen pro Woche. Diese 66 wöchentlichen Arbeitsstunden, oft bei einem langen Arbeitsweg, stellten aber schon einen deutlichen Fortschritt dar. Und sie erlaubten den Industriearbeitern das, was wir heute Freizeitaktivitäten nennen würden.
Vereinsgründungen dank Versammlungsfreiheit
So gründeten Fislisbacherinnen und Fislisbacher 1861 den Kirchenchor, der 1888 im Dorf ein Bezirksgesangsfest organisierte, im Jahr darauf ein gesangliches Cäcilienfest. Fast zur gleichen Zeit versammelte sich die Musikgesellschaft, die zehn Jahre später ihre erste Uniform einweihte. 1895 entstand der Militärschiessverein, ein Jahr später der Turnverein, just vor der Jahrhundertwende noch der Dramatische Verein. Ermöglicht hatte diese Vereinsgründung der moderne Bundesstaat, der nach 1848 mit seiner liberalen Ausrichtung eine regelrechte Gründungswelle auslöste. Jahrzehntelang waren die Vereine ein Ersatz für die politischen Parteien. In ihren Reihen bildete man sich eine eigene Meinung und gleichzeitig erlaubten die Vereinstätigkeiten das Einüben demokratischer Prozesse.
Mit Singen, Turnen, Schiessen und Musizieren waren die typischen Vereinsaktivitäten des 19. Jahrhunderts abgedeckt. Bis zur Gründung der Veloclubs in Birmenstorf, Stetten und Fislisbach sollte es noch zwei weitere Jahrzehnte dauern. Noch etwas länger brauchten die Fussballvereine.
Allmähliches Zusammenwachsen der Eidgenossenschaft
Politik: Konservative werden eingebunden
Als der «Reussbote» 1898 zum ersten Mal durch die Druckerpresse lief, feierte die Schweiz gerade das 50-jährige Bestehen des modernen Bundesstaates. Abgesehen von tiefsinnigen Reden und feuchtfröhlichen Feierlichkeiten erfolgte die Einweihung des Landesmuseums in Zürich. Das Museumsschloss hinter dem Hauptbahnhof macht bis heute den (falschen) Eindruck einer mittelalterlichen Baute. Architekt Gustav Gull wollte durchaus einen Bezug zur Alten Eidgenossenschaft schaffen. Deshalb zählte der Waffensaal mit Spiessen, Hellebarden und Morgensternen zu den Höhepunkten der Ausstellung. Gull gestaltete den Grundriss des Museums in der Form des Buchstabens G, ganz unbescheiden nach seinem Vornamen und seinem Nachnamen.
Zentrale Eisenbahnfrage
Bis zu diesem Zeitpunkt war die Schweiz schon etwas zusammengewachsen. Zwar war das Bundeshaus, wie wir es heute kennen, noch im Bau. Aber verschiedenste Schützen-, Trachten-, Gesangs- und Turnfeste brachten die Bevölkerung aus allen Landesgegenden zusammen. Und auch das neue Landesmuseum sollte integrativ wirken. Zu überwinden galt es nämlich viele Gräben: zwischen Stadt und Land, Berg und Tal, Armen und Reichen sowie zwischen den vier Sprachregionen. Der grösste Gegensatz bestand allerdings in religiösen Angelegenheiten. Auf die Aufhebung der Aargauer Klöster folgte der Sonderbundskrieg von 1847. Und auf diesen Bürgerkrieg schon bald der Kulturkampf zwischen Katholischen und Reformierten. Auf dem Feld der Politik zeigte sich dies in den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen, während Gewerkschaften und Sozialdemokratie noch über wenig Einfluss verfügten. Die politischen Verwerfungen im Land zeigten sich 1898 auch in den eidgenössischen Abstimmungen. Im Februar stimmte das Stimmvolk einem Gesetz deutlich zu, das den Weg ebnete für die Schaffung der Schweizerischen Bundesbahnen. Die Verstaatlichung der fünf wichtigsten privaten Eisenbahngesellschaften fand auch rund um Mellingen eine satte Mehrheit. Dies geschah aus den Erfahrungen des Nationalbahn-Konkurses von 1877, der die Gemeinden in unserer Gegend viel Geld kostete. Im Grunde genommen ging es um die alte Frage, ob der liberal ausgerichtete Bundesstaat föderalistisch oder zentralistisch aufgebaut sei.
«Verschmelzung» von Gemeinden
Darum ging es auch in der zweiten Abstimmung im November, die über eine Vereinheitlichung des Zivilrechts und des Strafrechts befinden musste. Das männliche Stimmvolk sprach sich mit einem Mehr von fast drei Vierteln dafür aus. In unserer Gegend fiel die Zustimmung etwas geringer aus. Denn viele der im unteren Reusstal dominierenden Katholisch-Konservativen hätten es lieber gesehen, wenn die Kantone in ihrer Rechtsprechung unabhängiger geblieben wären. Für sie war es besonders wichtig, dass 1891 mit dem Luzerner Josef Zemp nach über 40 Jahren einer der ihren zum ersten Bundesrat gewählt wurde, der nicht einer der drei freisinnigen Richtungen angehörte. Zwar waren die Nachwehen des Kulturkampfs noch immer zu spüren, aber allmählich ging man zu einer Konkordanzpolitik über, die möglichst viele Bevölkerungsgruppen und Minderheiten an der Meinungsbildung und der Macht beteiligen sollte.
Die hohe Politik wirkte sich auch auf die Gemeinden aus. Eckwil war bereits seit 1804 mit Mägenwil verbunden und 1896 war erstmals die Rede von einem Zusammenschluss von Wohlenschwil und Büblikon, die knapp zehn Jahre später Tatsache wurde. Die besten Beispiele allerdings sind Niederwil und Nesselnbach, die seit 1900 Hand in Hand gehen. Damals fegte eine eigentliche Fusionswelle über den Aargau. Zwischen 1898 und 1900 verfügte der Kanton insgesamt zehn «Verschmelzungen» von Gemeinden, wie man das damals nannte. Der Regierungsrat reagierte damit auf die Problematik, dass kleine Gemeinden oft mit finanziellen Schwierigkeiten kämpften und mit den wachsenden administrativen Aufgaben überfordert waren. Meist zeigten sich die Missstände im Schulwesen und bei der Armenpflege, schliesslich waren die Gemeinden noch für ihre auswärtigen Bürgerinnen und Bürger zuständig, wenn sie erkrankten oder verarmten.
Zum Autor: Patrick Zehnder arbeitet als freischaffender Historiker und unterrichtet Geschichte an der Kantonsschule Baden. Er lebt mit seiner Familie in Birmenstorf.









