Ein Abschied, der für alle auch Aufbruch ist
30.06.2023 Mellingen, Region ReusstalPius Jeck begann im Jahr 1978, als «Lehrermangel» ein Fremdwort war, zu unterrichten. In diesem Sommer wird er pensioniert
Sie haben gemeinsam Ideen entwickelt, Lernprozesse erlebt und Arbeiten vollendet. Vor dem grossen Abschied blickt Pius Jeck noch einmal ...
Pius Jeck begann im Jahr 1978, als «Lehrermangel» ein Fremdwort war, zu unterrichten. In diesem Sommer wird er pensioniert
Sie haben gemeinsam Ideen entwickelt, Lernprozesse erlebt und Arbeiten vollendet. Vor dem grossen Abschied blickt Pius Jeck noch einmal zurück.
Bald wird er seine Sechstklässlerinnen und Sechstklässler ein letztes Mal verabschieden. 38 Jahre lang war Pius Jeck Primarlehrer in Mellingen, auf Ende dieses Schuljahres wird er pensioniert. «Nach so langer Zeit und mit dieser herzlichen Klasse könnte das auch ein trauriger Tag werden», meint Jeck. Und doch sieht er der letzten Schulwoche mit einem «sehr guten Gefühl» entgegen. «Wir konnten gemeinsam Ideen entwickeln, haben Lernprozesse durchlebt und vieles abgeschlossen. Das mag ich», sagt der Lehrer. Zudem sei der Abschied am Ende dieses Schuljahres nicht nur Abschied. Für ihn und für seine Schülerinnen und Schüler sei er auch Aufbruch. Die Mädchen und Buben wechseln an die Oberstufe. Und der Lehrer ist froh, wenn Planung und Verantwortung weniger werden; wenn er mehr Zeit findet für seinen Garten, das gemeinsame Kochen mit seiner Frau und für seine Werkstatt. «Am inneren Prozess des Loslassens und des Aufbruchs», fügt er an, «arbeite er seit den Sportferien.»
An diesem sonnigen Nachmittag aber entlässt er jedes Mädchen und jeden Buben mit einem Handschlag, einem freundlichen Wort, einem Witz oder einem Lachen nach Hause.
Die «Traumreise» verführte ihn
Beim anschliessenden Gespräch im Klassenzimmer erzählt er von Veränderungen im Schulalltag. Er spricht über Hausaufgaben, Mathematik, Musik und Sport an der Schule. Und er erzählt von seinen Anfängen als Lehrer. Das Lehrerpatent hatte Pius Jeck nach dem Besuch des Lehrerseminars Wettingen im April 1978 erworben, gleichzeitig mit 400 anderen Absolventinnen und Absolventen im Aargau. «Anders als heute herrschte damals ein Überfluss an Lehrpersonen», sagt Jeck. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Stellensuche. Jeck hangelte sich von Stellvertretung zu Stellvertretung – kam vor allem auf der Oberstufe zum Einsatz, um Militärdienste zu überbrücken. Parallel dazu verfolgte er seine grosse Leidenschaft, die Musik. Er war Chorleiter und Organist im Fricktal und liess sich weiterbilden im Bereich Kirchenmusik sowie auch an der Jazz-Schule in Luzern.
In Mellingen übernahm er 1985 erstmals eine Stellvertretung. Dass er im Städtchen an der Reuss hängen blieb, daran ist die Musik nicht unschuldig. 1989 wechselten die Schulen im Aargau vom Frühlings- auf den Herbstbeginn. Damit verbunden war ein überlanges Schuljahr mit fünf statt vier Quartalen. «Wir hatten plötzlich viel Zeit», sagt Jeck. In den Köpfen des Lehrerkollegiums reihte sich damals Idee an Idee. Für das fünfte Quartal, für diese geschenkte Zeit, dachten sich die kreativen Köpfe denn auch etwas Besonderes aus. Sie planten mit dem ganzen Schulhaus ein Musik- und Theaterprojekt und inszenierten im Juni 1989 die «Traumreise». Mit dieser Aufführung habe es ihm, «den Ärmel reingezogen», sagt Pius Jeck. «Ich realisierte, in Mellingen sind Musikprojekte möglich.»
Obwohl die Musik zu Jecks persönlichen Leidenschaften zählt, genau wie auch Werken oder Sport, brachte er seinen Schülerinnen und Schüler besonders gerne mathematische Fertigkeiten bei. Stets mit der Frage: Wie gelangt man zu Kompetenz? Wie wird man zur Forscherin oder zum Forscher? Jeck reflektierte über die Jahrzehnte hinweg den Sinn von Hausaufgaben oder Schulnoten und änderte dazu auch mal seine eigene Haltung. Fest steht für ihn: «Schulkinder sollen bei Hausaufgaben mitdenken.» Dabei soll durchaus auch in der Mathematik der Bezug zum Alltagsleben gesucht werden. Er schickte die Schülerinnen und Schüler deshalb schon mal mit der Frage nach Hause: «Welche Waagen habt ihr zu Hause?»
Mehr Geduld für den Zickzack-Weg
Über vierzig Jahre Unterricht – davon 38 Jahre in Mellingen; in dieser langen Zeitspanne organisiert ein Lehrer unzählige Ausflüge, Projektwochen, auch Klassenlager. Pius Jeck brachte seine Klassen zum Zelten ins Fricktal oder ins Hölloch und zu den «Wätterschmöckern» im Muotathal.
Vierzig Jahre Schule, da liegt die Frage nach Veränderungen nahe: Jeck erwähnt die Ansprüche der Eltern und die zunehmende Ungeduld der Kinder. Wenig Gefallen findet er an der gestiegenen Erwartungshaltung der Eltern gegenüber ihren Kindern. «Das kann Kinder stark belasten», sagt der Vater von drei Söhnen. «Eltern müssen diese Erwartungen senken.» Bei den Mädchen und Buben hingegen habe die Ungeduld stark zugenommen. «Kaum begonnen, wollen sie ihre Arbeit auch schon beendet sehen», meint Jeck. Es mangle an Geduld, Prozesse zu erarbeiten. «Sie haben Mühe, den Berg auf dem Zick-Zack-Weg zu erklimmen.» Wenn aber Eigenleistungen an Wert verlieren, so gehe das einher mit dem Verlust an Selbstvertrauen, an Vertrauen in das eigene Können, erklärt Pius Jeck.
Dem Lehrer bleiben wenige Wochen an der Schule. Das letzte Theater, nochmals Film, Musik und viel Spass. Danach räumt Pius Jeck sein Klassenzimmer und sagt «Tschüss».
Heidi Hess
«Film ab! » mit Regisseur Koller für die Schlussaufführung «Aufbruch»
Zum Abschluss ihrer Primarschulzeit übt und filmt die sechste Klasse von Pius Jeck für das Theaterprojekt «Aufbruch»
«Film ab» heisst es an diesem Nachmittag auf dem Pausenplatz beim Primarschulhaus Bahnhofstrasse in Mellingen. Vor Ort ist der Mellinger Filmemacher Simon Koller mit seiner Kamera, vor Ort ist auch die sechste Klasse von Pius Jeck. Die Sechstklässlerinnen und Sechstklässler folgen den Regieanweisungen von Simon Koller, der mit ihnen kurze Filmsequenzen dreht. Die kurzen Szenen mit Skateboards, Volleyball, Fussball oder Einrad sind Teil des Theaterprojekts «Aufbruch», welches die sechste Klasse vor Angehörigen zum Schulschluss zeigen wird.
Zu viel verraten mag Klassenlehrer Pius Jeck im Vorfeld nicht. Nur so viel: «Zum Schulabschluss übe ich mit meinen Sechstklässlerinnen und meinen Sechstklässlern immer ein Theaterprojekt ein.» Bei dieser Aufführung rund um das Thema «Aufbruch» sei auch das Jugendbüro von Mellingen involviert. Die Geschichten haben die Mädchen und Buben selbst geschrieben rund um das Thema: «Stell dir vor, du bist 25: Was machst du aus deinen Talenten, mit deinem Können?» Drei unterschiedliche Darstellungsformen wurden für die Inszenierung des Projektes «Aufbruch» gewählt: Musik, Film und Theater.
Pius Jeck eilt am Schluss dieses Nachmittags von Gruppe zu Gruppe, ist überall und fragt: «Konntet ihr eure Szenen beenden?» Sobald die Jugendlichen bejahen, antwortet er zufrieden: «Gut, gut, gut!» Er weiss, die Mädchen und Buben werden zu ausserordentlichen Auftritten fähig sein. – Das zeigt die jahrelange Erfahrung! Und doch bilden gute Vorbereitungen die Basis, wenn die Klasse auf der Bühne Höchstleistungen zeigen soll. «Das bedingt auch mal eine klare Ansage.»
Regisseur Simon Koller lobt die Klasse: «Hervorragend habt ihr das gemacht.» Zwei von fünf Szenen sind im Kasten. Die vielen Wiederholungen zu Beginn des Drehnachmittags gehörten dazu, meint er: «Ein bisschen freestyling! So ist das halt beim Film.» – Für die letzten Szenen am folgenden Tag rät er den Schülerinnen und Schülern: «Entwickelt eure Charaktere weiter.» (hhs)