Wenn Anspruch und Wirklichkeit divergieren
25.08.2023 Birrhard, Region ReusstalDer «Reussbote» unterhielt sich mit der kurdischen Familie aus dem Irak, die nach einem Anschlag der PKK flüchtete
Sie sind aus dem Norden Iraks geflüchtet und kamen in die Schweiz. Seit letzter Woche lebt eine kurdische Familie in einer Unterkunft in Birrhard. Der ...
Der «Reussbote» unterhielt sich mit der kurdischen Familie aus dem Irak, die nach einem Anschlag der PKK flüchtete
Sie sind aus dem Norden Iraks geflüchtet und kamen in die Schweiz. Seit letzter Woche lebt eine kurdische Familie in einer Unterkunft in Birrhard. Der «Reussbote» unterhielt sich mit der siebenköpfigen Familie.
Die Wohnung befindet sich im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses. Wir werden freundlich, aber mit prüfenden Blicken empfangen. Wie im Irak üblich, ziehen wir die Schuhe aus und setzen uns zusammen mit dem Vater auf das Sofa. Nach und nach treffen die Familienmitglieder ein. Die Unterhaltung führt Saman Nüssli. Die Familie spricht zwar nicht denselben Dialekt wie er, die Verständigung ist jedoch gut. Es sei zu vergleichen, wie wenn sich ein Aargauer mit einem Walliser unterhält.
Tochter auf Flucht verloren
Der Vater berichtet von seiner Heimat. Die Familie wohnte in einem Vorort der Stadt Zaxo an der Grenze zur Türkei. Sie wohnte dort in einer geräumigen Wohnung und hatte ein eigenes Auto. «Wir haben Landwirtschaft betrieben, hatten Geissen, Hühner, Gemüse und Obst», berichtet der Vater. Weshalb sind sie geflüchtet?, möchte der «Reussbote» wissen. In der Nähe gab es einen Anschlag der PKK, wir hatten Angst, so der Vater. Deshalb ergriff die Familie die Flucht, damals noch zu acht. Eine Tochter wurde in Griechenland verhaftet und zurückgeführt in den Irak. Sie soll jetzt erneut auf dem Weg in die Schweiz sein und demnächst zu ihrer Familie stossen.
Die Fluchtroute führte in die Türkei, von dort vermittelten Schlepper die Reise zuerst nach Griechenland, wo die Familie von der Polizei angehalten wurde. Sieben Personen gelang daraufhin die Flucht, die Tochter wurde zurückgeschafft in den Irak. Am 5. Oktober letzten Jahres reiste die Familie über Basel in die Schweiz ein und war zuletzt in einer Gross-Asylunterkunft in Aarau untergebracht mit weiteren flüchtenden Menschen. Dort mussten sie Nasszellen, Küche und Wohnzimmer teilen.
Weshalb haben sie zuerst den Bezug der Wohnung verweigert?, fragt der «Reussbote». «Die Wohnung ist perfekt und schön», sagt der Vater, «aber für sieben Personen ist sie zu klein». Er wünschte sich ein weiteres Schlafzimmer. In Aarau hätten ihm andere Migranten erzählt, dass sie in eine schöne, grosse Wohnung ziehen werden, sobald sie in eine Gemeinde verlegt werden. Eine andere Familie wohnt zu viert in einer Vierzimmerwohnung in Zofingen, berichtet der Vater weiter. Zu schaffen macht der Familie die schlechte Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Das jüngste Kind geht seit ein paar Tagen in die Primarschule Birrhard. Die älteren Kinder möchten die Sprache lernen, sie müssen in Aarau Kurse besuchen. Das sei sehr umständlich, sagt der Vater. Und eine Tochter ergänzt, dass sie mit der Verlegung aus Aarau ihre Freundinnen verloren hätte. Die Kinder sind 11, 15, 17, 20 und 22 Jahre alt. Mittlerweile haben sie sich in der Wohnung arrangiert. Die jungen Männer schlafen auf dem Boden im Wohnzimmer auf einer Matratze, was im Irak durchaus üblich ist. Die drei jungen Frauen teilen sich ein Schlafzimmer, die Eltern belegen das zweite Schlafzimmer.
Benedikt Nüssli
Deshalb können wir uns mit der Familie unterhalten
Der Schreiber dieses Artikels war vor einigen Wochen selber im Irak, in der autonomen Region Kurdistan. Saman Nüssli, Ehemann von Selina Nüssli, ist in Sulaimanyyia (Autonome Region Kurdistan im Irak) aufgewachsen und flüchtete nach der Schule in die Schweiz. Er hat sich in seiner neuen Heimat gut integriert, hat eine Aufenthaltsbewilligung und arbeitet in einer Schweizer Druckerei, die Sicherheits-Dokumente druckt. Er half beim Interview mit der Familie und war für die Übersetzung zuständig. (bn)
Arbeiterpartei Kurdistans PKK
Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist eine kurdische Untergrundorganisation mit sozialistischer Ausrichtung, die sich militanter Methoden bedient. Ihren Ursprung hat sie in den kurdischen Siedlungsgebieten innerhalb der Türkei. Die PKK, die heute unter der Bezeichnung Volkskongress Kurdistans agiert, strebte ursprünglich einen eigenen kurdischen Nationalstaat an, der die Gebiete Südostanatoliens (Türkei), den Nord-Irak, Teile des westlichen Irans und Gebiete im Norden Syriens umfassen sollte. Obwohl seitens der PKK immer wieder betont wird, man habe die früheren separatistischen Ziele aufgegeben, bemüht sie sich weiterhin um einen länderübergreifenden Verbund aller Kurden im Nahen Osten. Ihr militärischer Arm verübt Anschläge auf militärische und zivile Ziele. Die PKK wird seit 2002 auf der EU-Terrorliste geführt.