Der Nationalpark als Kulturgut
31.10.2023 Wohlenschwil, Region ReusstalDer Direktor des Schweizerischen Nationalparks Ruedi Haller referierte in der Alten Kirche
Ruedi Haller ist in Stetten aufgewachsen und wirkte in Mellingen als erfolgreicher Volleyballtrainer. Heute lebt der Direktor des Schweizerischen Nationalparks im Unterengadin. Für ein Referat ...
Der Direktor des Schweizerischen Nationalparks Ruedi Haller referierte in der Alten Kirche
Ruedi Haller ist in Stetten aufgewachsen und wirkte in Mellingen als erfolgreicher Volleyballtrainer. Heute lebt der Direktor des Schweizerischen Nationalparks im Unterengadin. Für ein Referat kam er nun zurück ins Reusstal.
Für Ruedi Haller war es quasi ein Heimspiel. Die Alte Kirche Wohlenschwil war bis auf den letzten Platz gefüllt. Im Publikum: viele ehemalige Sportkameraden und Weggefährten aus früheren Tagen. «Der Ruedi kann aber nicht nur Sport», witzelte Christof Messmer von der Kulturkommission, die Haller eingeladen hatte, in seiner Begrüssung. Dieser antwortete als Hommage an seine neue Heimat auf Romantsch – und hatte die Aufmerksamkeit der Zuhörer sofort auf seiner Seite. In seinem eigens für diesen Anlass konzipierten Referat nutzte Haller die unterschiedlichsten Techniken, um das Publikum zu fesseln und zu unterhalten. Gleich zu Beginn wurde es interaktiv: «Was stört das Naturerlebnis?», liess er im Saal per Handy-App abstimmen. Und auch der eine oder andere Scherz durfte natürlich nicht fehlen. Etwa wenn Haller seine eigene Funktion als Direktor des Schweizerischen Nationalparks beschrieb: «Ich bin angestellt zum nichts machen», lachte er, um ernster hinzuzufügen: «Und ich muss dafür sorgen, dass andere auch nichts machen – und das ist ein Haufen Arbeit». Haller bezog sich damit natürlich auf das Konzept des Nationalparks, die Natur unberührt zu belassen.
Bogen von damals bis heute
Im Anschluss beschrieb Haller, wie es 1914 zur Gründung des 170 km2 grossen Schweizerischen Nationalparks im Viereck Zernez–S-chanf– Ofenpass–Scuol kam: «Die Gründer wollten ein Gegengewicht zur Industrialisierung bilden», so Haller. Der Nationalpark sei nicht als touristische Einrichtung geplant gewesen. Die Ziele seien: Die Natur zu schützen, zu erforschen und darüber zu berichten. «Was passiert, wenn man die Natur sich selbst überlässt?». Diese Frage ist durchaus komplex. Denn wie Haller ausführte, war die Landschaft, in welcher der Park entstand, schon damals keine ursprüngliche Natur mehr. So gebe es viele Hinweise, dass am Ofenpass schon die letzten 1000 Jahre Bergbau in Form von Silberminen betrieben wurde. Auch beim Wald im Gebiet handelte es sich nicht um einen Urwald, da früher schon Forstwirtschaft betrieben worden sei. Ganz so einfach wie die Gründerväter es sich vorstellten, ist die Sache also nicht.
Tiere beeinflussen die Landschaft
In den 1920er-Jahren wurden zehn Steinböcke im Nationalpark ausgewildert. Schon damals ein echtes Event, wie ein Stummfilmausschnitt zeigte, den Haller dem amüsierten Publikum vorführte. Ein anderes Tier, das von ganz allein eingewandert ist, gestaltet und bereichert die dortige Landschaft jedoch viel mehr: der Rothirsch. «Der Rothirsch ist ein Treiber der Biodiversität», erklärte Haller. Je länger ein Gebiet beweidet werde, umso mehr verschiedene Pflanzenarten gebe es. Allgemein habe sich die Artenvielfalt im Nationalpark in den letzten 100 Jahren deutlich vergrössert. Ein weiterer Besucher hat sich ebenfalls ganz von selbst angesiedelt: «Wir haben seit vier Wochen wieder ein Rudel Wölfe», freute sich der Direktor, der allerdings auch die Probleme aufzeigte. Die Tiere hätten wegen der dichten Besiedlung durch den Menschen Probleme, Grenzen zu Überwinden. Der Nationalpark selbst sei viel zu klein. Die Lösung: eine Vernetzung der Schutzgebiete in den Alpen. Hallers Fazit: Natürliche Entwicklungen, also Wildnis zuzulassen, brauche Mut, Vertrauen und gute Argumente gegenüber Entscheidungsträgern. «Es braucht den Willen der Gesellschaft», so Hallers eindringlicher Schlussappell, bevor der interessante Abend mit «Bündner Plättli» und Malanser Wein gesellig ausklang.
Michael Lux