«Bevölkerungswachstum erzeugt auch Ängste»
06.10.2023 Birrhard, Region ReusstalDie Gemeinde wächst und wächst. Was aber macht der Bauboom mit dem Dorf und seiner Bevölkerung? So sieht es der Ammann
Gemeindeammann Knappe beobachtet das Wachstum in seinem Dorf genau. Er spricht über Integration, Teilnahme am Vereinsleben, über den Steuerfuss und ...
Die Gemeinde wächst und wächst. Was aber macht der Bauboom mit dem Dorf und seiner Bevölkerung? So sieht es der Ammann
Gemeindeammann Knappe beobachtet das Wachstum in seinem Dorf genau. Er spricht über Integration, Teilnahme am Vereinsleben, über den Steuerfuss und über die Bedeutung des Ladens im Dorf.
In Birrhard schiessen neue Überbauungen wie Pilze aus dem Boden. An der Käsistrasse sind neun neue Mehrfamilienhäuser mit überwiegend kleineren 2,5- und 3,5-Zimmer-Wohnungen sowie auch einigen 4,5-Zimmer-Wohnungen entstanden – insgesamt über 90 neue Wohnungen. Im Tannerai und im Steibode sind weitere 50 bis 60 Wohnungen in Planung. Rund 350 Menschen werden innert kurzer Zeit nach Birrhard ziehen. Verkraftet das kleine Dorf diesen Bauboom? Wie geht es mit dem Bevölkerungswachstum um? Der «Reussbote» sprach mit Daniel Knappe, Gemeindeammann in Birrhard.
◆ Herr Knappe, Birrhard wächst. Massiv. Die Bevölkerung wird um 50 Prozent zunehmen – von 750 Einwohnerinnen und Einwohnern um rund 350 auf über 1000 Menschen.
Daniel Knappe: Das ist in absoluten Zahlen – verglichen etwa mit der Stadt Baden – nicht viel. In Birrhard wird dieses Wachstum aber Auswirkungen auf die Infrastruktur haben, zum Beispiel auf die Verwaltung.
◆ Macht es Ihnen Sorgen?
Nein. Sorgen ist das falsche Wort. Wir müssen aber genau beobachten, wie wir vorgehen. Wachstum ist indirekt steuerbar: Zwar kann ich mir nicht 50 Prozent Wachstum wünschen und gleichzeitig auflisten, wie viele Kinder, Gutverdienende oder Sozialfälle nach Birrhard ziehen sollen. Die demografische Entwicklung können wir beeinflussen, indem wir versuchen, für gewisse Zielgruppen attraktiv zu sein. Daran arbeiten wir – auch wenn es vielleicht nicht zu 100 Prozent aufgeht.
◆ An welche Zielgruppen denken Sie?
Es muss ein Mix sein. Wir können nicht sagen, wir hätten gerne Ein-Personen-Haushalte ohne Kinder, die pro Haushalt 50 000 Franken an Steuern zahlen. Das würde auch nicht passen.
◆ Was würde denn passen?
Von allem etwas. Ähnlich, wie es in Birrhard bereits jetzt gut funktioniert. Familien mit Kindern, die die Schule beleben; Menschen, die sich aktiv im Dorf und am Vereinsleben beteiligen – Birrhard hat sehr viele Vereine. Auch Menschen, die einen Batzen an Steuern bezahlen und nicht einen Batzen an Sozialunterstützung benötigen.
◆ Was können Sie dafür tun?
Wir erarbeiteten vor einigen Jahren ein Marketingkonzept. Ziel war es, freundlicher daher zu kommen. Unsere Präsentationen wurden verjüngt – Logos oder Gemeindewappen können alt wirken. Die Neugestaltung der Webseite war ein Thema, auch die sozialen Medien ...
◆ ... letztlich Kosmetik. Sie haben den Auftritt der Gemeinde aufgefrischt.
Ja, Kleinigkeiten. Wir sind aber im ganzen Kanton auch die Gemeinde, die im letzten Jahr, ohne zu fusionieren, die grösste Steuerfussreduktion vornehmen konnte. Auf 2023 senkten wir den Steuerfuss um 6 Prozent. Andere Gemeinden mussten erhöhen ...
◆ Birrhard weist aktuell einen Steuerfuss von 109 Prozent auf.
Das ist ein erster «Gump» – und diese Reise soll nicht beendet sein. Wir waren schon mal bei 118 Prozent ... Wenn es weitere Möglichkeiten gibt, nochmals einen solchen Sprung zu machen, tun wir das. Es lohnt sich allerdings kaum, um 1 oder 2 Prozent zu reduzieren ... Aber in ähnlicher Höhe? Auch über den Steuerfuss steigt unsere Attraktivität. Das ist nicht das einzige Instrument, aber es zählt.
◆ Sie wollen Steuern senken, gleichzeitig benötigen Sie auch Infrastruktur, was wiederum Kosten verursacht.
Wir analysierten verschiedene Bereiche: Verkehr, Schule, Wasser und Abwasser, die Verwaltung. Wir fragten uns, was wird der Gemeinde als erstes weh tun? Relativ rasch kamen wir auf die Schule.
◆ Die Schule war an der letzten Gemeindeversammlung Thema.
Genau. Wir gleisten die Planung der Schulraumerweiterung auf und rechneten sie im Finanzplan bereits ein. Es braucht neue Klassenzimmer, Werkräume oder Räume für die Tagesstrukturen.
◆ Bei der Schule besteht Handlungsbedarf. Auch in anderen Bereichen?
Die übrigen Parameter hatten wir in der Vergangenheit so weit im Griff, dass wir problemlos wachsen können. Möglicherweise muss die Verwaltung personell aufgestockt, Pensen angepasst werden. Aber es gibt genügend Arbeitsplätze, eine funktionierende IT-Struktur. Verglichen mit dem Gewinn fallen diese Anpassungen nicht allzu stark ins Gewicht.
◆ Warum nicht?
Kosten, die bisher auf rund 750 Schultern verteilt wurden, werden künftig von über 1000 Schultern getragen. Fixkosten werden neu auf eine grössere Anzahl Einwohnerinnen und Einwohner verteilt. Das führt für den Einzelnen auch zu einer Kostenreduktion.
◆ In Birrhard fehlt ein Dorfladen.
Einen Laden im Dorf zu haben wäre tatsächlich schön. Dafür existieren Ideen und auch ein Konzept.
◆ Sie arbeiten daran?
Ja. Aber anders als vor 30 Jahren, wo sich das Alltagsgeschehen stark auf das Dorf konzentrierte – wohnen, arbeiten, einkaufen am gleichen Ort
– wohnt man heute an einem Ort, arbeitet an einem anderen und kauft irgendwo ein. Niemand trägt vier Einkaufstaschen nach Hause, eher landen Einkäufe im Kofferraum eines Autos.
◆ Wird Birrhard zum Schlafdorf?
Ich denke nicht. Ein Laden ist nicht alleiniges Kriterium für Leben im Dorf.
◆ Was braucht es denn sonst noch?
Mir scheint der kulturelle Zusammenhalt weit wichtiger. Wir pflegen in Birrhard ein ausgeprägtes Vereinsleben mit vielen Anlässen. Vom Brötli-Examen über das Dorffest, Fischessen und den Neuzuzüger-Anlass bis zum Weihnachtsmarkt. Wenn es uns gelingt, Neuzuzügerinnen und -zuzüger in dieses Dorfleben zu integrieren, gemeinsam zu kreieren und Spass zu haben, erhalten wir solche Anlässe auch künftig am Leben. – Das hat letztlich den grösseren Effekt auf die Gemeinschaft als der Laden im Dorf.
◆ Wie erlebt die Bevölkerung von Birrhard das Wachstum ihres Dorfes?
Wachstum generiert zunächst Ängste. Wer wird kommen? Wie denken und handeln Zuzügerinnen und Zuzüger? Neues ist nicht nur Risiko. Es ist auch Chance. Weil sich beispielsweise mehr Menschen am Geschehen beteiligen.
◆ Die neuen Mehrfamilienhäuser an der Käsistrasse sind schön, nicht spektakulär. Bewegen sich die Preise in einem bezahlbaren Segment?
Günstig sind die Wohnungen nicht. Der Mietzins für eine 4,5-Zimmer-Wohnung beträgt rund 2500 Franken.
◆ Warum wird gerade in Birrhard so intensiv gebaut?
Dazu gibt es zwei, drei Parameter. Einmal war Bauland vorhanden. Inzwischen merken wir aber auch hier, dass in Zürich Wohnraum fehlt. Viele finden weder in der Stadt noch im Kanton erschwingliche Liegenschaften. Der Aargau ist noch etwas günstiger und der Arbeitsweg nicht zu lang. Nach dem Rohrdorferberg liegt der Fokus nun auch auf Birrhard. Man kann kaum idealer wohnen: Wenige Minuten bis zur Autobahn.
◆ Integration verlangt einen Effort. Was tun Sie dafür?
Wir können versuchen, mit offenen Armen und aktiv auf die Menschen zuzugehen. Letztlich ist es eine Frage des Verhaltens: Wie kommuniziere ich mit den Menschen?
◆ Würden Sie Birrhard als junges Familiendorf bezeichnen?
Nein. Wir setzten, als wir die Standortattraktivität analysierten, bewusst auf «Familienfreundlichkeit». Wir haben Anlässe initiiert und zeigten Vorteile für Familien auf. Wir hoffen, dass wir davon endlich etwas spüren ...
◆ Wer baut hier? Pensionskassen? Das ist unterschiedlich.
◆ Gab es gegen die grossen Bauvorhaben Einwendungen?
Immer wieder. Das ist normal. – Einfamilienhäuser in deren Mitte neun neue Wohnhäuser entstehen. Das ist ein «Tolgge». Das erzeugt Respekt. Aber man fand Lösungen und es konnte gebaut werden. Zudem ist der Bedarf vorhanden ...
◆ Das heisst?
Ich war besorgt, dass wir nun lange mit einem hohen Leerwohnungsbestand kämpfen werden ... Wir hatten 330 Haushalte. Mit der Käsistrasse kamen auf einen Schlag 90 neue Haushalte hinzu.
◆ War Ihre Sorge begründet?
Nein. Alle Wohnungen sind weg.
◆ Die Menschen wohnen bereits dort? Im hinteren Teil sind alle Wohnungen bezogen. Die übrigen sind im Oktober und im November bezugsbereit.
Heidi Hess