«Alles war farbiger, kitschiger – für mich zu viel»
01.12.2023 Mellingen, Region ReusstalErziehungsberaterin und Elterncoach Ariane Egloff erzählt, wie es gelingt, mit Kindern eine gemütliche Vorweihnachtszeit zu erleben
«Woher kommt der Stress?» – Das sollen sich Eltern vor Weihnachten fragen. Ariane Egloff rät, Kinder machen zu lassen: Die ...
Erziehungsberaterin und Elterncoach Ariane Egloff erzählt, wie es gelingt, mit Kindern eine gemütliche Vorweihnachtszeit zu erleben
«Woher kommt der Stress?» – Das sollen sich Eltern vor Weihnachten fragen. Ariane Egloff rät, Kinder machen zu lassen: Die Guetzli genauso wie die Weihnachts-Dekoration.
Adventskalender aufhängen, Adventskranz bereit stellen, Nachmittage lang backen, malen und basteln. An den Abenden und an Wochenenden geht es zum Adventskonzert, ins Schultheater, an Weihnachtsmärkte oder in den Weihnachtsfilm im Kino. Alles dreht sich im Advent um Traditionen, Rituale und stimmungsvolle Momente – der gesamte Weihnachtszauber will ausgekostet werden. Für Familien mit Kindern können die Wochen vor Weihnachten eine besonders schöne Zeit sein. Gleichzeitig sind sie in diesem Monat aber auch besonders gefordert. Wie kann man im Advent Hektik vermeiden? Wie gelingt es, die Weihnachtszeit gemütlich zu gestalten? Der «Reussbote» sprach mit der Mellingerin Ariane Egloff, diplomierte individualpsychologische Beraterin, zertifizierte STEP-Trainerin und Klassenassistenz an einer Primarschule.
◆ Guetzli backen, weihnachtlich dekorieren, Geschenke vorbereiten, Konzerte und Theater. Vor Weihnachten sind die Ansprüche in vielen Familien besonders hoch. Frau Egloff, Sie sind Erziehungsberaterin und Elterncoach. Wie gelingt es Familien, eine gemütliche Adventszeit zu erleben?
Ariane Egloff: Ich rate Eltern in der Regel: Beginnt bei euch selbst. Fragt euch, woher dieser Stress kommt. Was erwarte ich von mir, was erwarten andere von uns? Und auch: Was erwarte ich von den Kindern?
◆ Wie lautet die Antwort?
Manchmal erzählen Eltern, die Kinder seien in dieser Zeit aufgeregter, lebhafter und wilder als sonst. Ich meine, das stimmt nicht: Kinder sind jederzeit lebhaft, das ganze Jahr hindurch.
◆ Was also raten Sie?
Eltern sollen sich fragen: Wieviel Perfektionismus ist nötig? Wo sind Abstriche möglich? Welche Traditionen und Rituale wollen wir wirklich? Rituale sind wichtig. Aber man darf sich schon fragen: Könnte weniger vielleicht mehr sein?
◆ Und dann?
Dann fertigt man eine Liste an und fragt sich, was ist uns als Familie wichtig? Eine solche Liste kann man mit den Kindern – auch mit kleinen – besprechen. Vielleicht möchten kleinere Kinder an den Samichlaus-Märt, dazu haben die grösseren aber keine Lust. Es muss nicht jeder Anlass mit der ganzen Familie besucht werden.
◆ Die Bedürfnisse der Einzelnen sollen stärker berücksichtigt werden?
Das ist richtig. Eltern können sich auch mal aufteilen. Vielleicht geht der Vater mit dem Sohn in den Wald, gemeinsam braten sie eine Wurst. Mutter und Tochter sehen sich währenddessen einen wunderschönen Weihnachtsfilm an, der den Bruder langweilt. – Man darf aus gewissen Ritualen ausbrechen, muss nicht alles gemeinsam machen. Die Kinder erleben das meist als sehr entspannend: Es macht ihnen Spass. Auch Adventskalender sind so eine Sache ...
◆ Warum?
Ich beobachte häufig, dass sich Familien unter Druck setzen lassen, die eigenen Rituale mit den Gepflogenheiten anderer Familien vergleichen. Sinnvoller wäre, sich auf sich selbst zu besinnen. Sich und den Kindern vermitteln: Wir sind wir. In unserer Familie machen wir das so.
◆ Abstand nehmen von Vergleichen, welche etwa durch Social Media zusätzlich gefördert werden?
Ja. Man kann beispielsweise Teenager, die viel auf Instagram oder Tiktok unterwegs sind, motivieren, eine kreative Karte zu basteln. Vielleicht löst das nicht gerade einen Begeisterungssturm aus. Aber es lohnt sich, dranzubleiben, weil sich auch Teenager später gerne an solche Erlebnisse erinnern.
◆ Welche zum Beispiel?
Kindern kann man durchaus die Advents- und Weihnachtsdekoration im Haus überlassen. Möglich, dass sie viel Farbe wählen – selbst hätte man eher auf Gold gesetzt. Aber warum nicht einfach machen lassen? Kinder sind generell sehr spontan und kreativ. Sie sollen mitreden dürfen.
◆ Sprechen Sie aus Erfahrung?
Ja. Mein Sohn und meine Tochter sind heute erwachsen, sie wohnen nicht mehr zu Hause. Aber als sie klein waren, acht oder zehn Jahre alt, liess ich diese Spontaneität schon mal zu. Sie durften ihre eigenen Zimmer und auch unsere Weihnachtstanne schmücken.
◆ Gefiel Ihnen das Resultat?
In der Tat war alles farbiger, auch kitschiger – aus meiner Sicht überall etwas zu viel. Aber das ist okay. Es muss nicht alles perfekt sein.
◆ Eine Herausforderung sind die vielen Rituale in der Weihnachtszeit: Adventskalender, Adventskranz, Guetzlen und auch der Baum wird erst zu Heiligabend geschmückt ...
... solche Rituale lassen sich aufbrechen. Die Tanne kann man früher kaufen, man kann sie auch früher schmücken. Um den Weihnachtszauber und den kindlichen Glauben dennoch hochzuhalten, kann man kleineren Kindern erzählen, dass man dem Christkind bei den Vorbereitungen hilft, damit es an Heiligabend nicht gar so viel zu tun hat. – Es sei über diese Hilfe mega froh, könne dann einfach kommen und die Geschenke unter den Baum legen.
◆ Wie steht es um das Basteln von Weihnachtsgeschenken?
Auch das soll gemütlich bleiben. In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage, was bastelt man? Ich erinnere mich, wie wir mal ein praktisches Geschenk wählten: Die Kinder bemalten mit wasserfester Farbe einen Besen aus Reisig. Sie hatten den grössten Plausch – den hatten übrigens auch die Beschenkten. Es muss nicht immer das perfekt bemalte Schmuckkästchen sein.
◆ Die Wahl dieses Geschenks erwies sich als Gewinn?
Ja. Auch ein Gewinn an Ruhe und Zeit oder an lustigen Momenten. Häufig empfehle ich Familien und auch in der Schule kleine Ermutigungszettel zu verfassen – für den Adventskalender oder generell als Geschenk. Jedes Familienmitglied schreibt einen Zettel mit einem sehr persönlichen Kompliment. Etwa «Ich liebe es, mit Dir zu lachen» oder «Du kannst so schön Geschichten erzählen». Der Aufwand dafür ist klein ...
◆ ... und das Geschenk kommt gut an?
Ich weiss, dass die Freude über solche kleinen Mitteilungen, die von Herzen kommen, gross ist. Oft werden diese Zettelchen von den Beschenkten sehr lange aufbewahrt. Es wird sozusagen Advents-Wärme geschenkt. Diese Ermutigungszettel sorgen für eine positive Atmosphäre: Kinder fühlen sich ernst genommen, sie erleben auf diese Weise Wertschätzung.
◆ Ermutigung als grosses Thema?
Für mich ein wichtiges Thema, übrigens nicht nur an Weihnachten. Ermutigung ist kein Lob. Ermutigung bedeutet, Selbstwertgefühl und Zugehörigkeitsgefühl fördern, Gemeinschaft lernen.
◆ Was schenken Erwachsene?
Sie können Kindern Zeit schenken, ein gemeinsames Erlebnis. Auf diese Weise erleben Kinder Wertschätzung mit allen Sinnen. Gemeinsame Zeit ist heutzutage wertvoller denn je. Dabei scheint mir wichtig, sich mit dem Geschenk auf ein einziges Erlebnis zu beschränken – es braucht nichts Zusätzliches, kein weiteres Päckchen. Ansonsten steigt auch bei Kindern die Erwartungshaltung.
◆ Wie halten Sie es mit Guetzlen?
Die Kinder mitmachen lassen.
◆ Auch beim Backen von Zimtsternen oder Spitzbuben?
Da stellen sich Fragen wie: Muss man wirklich jeden Teig selber machen? Kann man auch mal einen kaufen? Oder: Braucht es sechs Guetzli-Sorten? Genügen nicht auch drei?
◆ So dürfte es Familien mit Kindern gelingen, im Advent gelassen und heiter zu bleiben?
Es hilft bestimmt, wenn die eigenen Bedürfnisse nicht zu kurz kommen. Eltern sollten sich deshalb auch als Paar Zeit nehmen, vielleicht gemeinsam essen gehen. Mütter sollten sich Zeit nehmen für einen Tee und einen Schwatz mit einer Freundin, für ein Buch in aller Ruhe.
◆ Danach geht es weiter?
Natürlich, aber man ist motivierter und hat wieder zusätzliche Energie.
◆ Was ist mit Konzerten und Theater?
Wenn Kinder Schul-Aufführungen mitgestalten, selbst Theater oder ein Instrument spielen, ist Wertschätzung sehr wichtig. Solche Aufritte sollen gewürdigt und dürfen im Alltag auch als etwas Besonderes gefeiert werden. Es gilt aber einmal mehr aus der Fülle an Weihnachtsveranstaltungen – von Märchentheater bis Weihnachtsfilm im Kino – gezielt auszuwählen. Und zugunsten eines gemütlichen Tages in den eigenen vier Wänden auch mal auf etwas zu verzichten.
Wenn wir ehrlich sind, geht es häufig um unsere eigenen Ansprüche und Erwartungen. Aber wie gesagt: Weniger ist mehr.
Heidi Hess



