Die Aufteilung der Grossgemeinde Rohrdorf 1854
26.04.2024 Oberrohrdorf-Staretschwil, Region RohrdorferbergAm 21. September feiert die Gemeinde drei historische Ereignisse. Alt Vizeammann Dr. René Roca hat dazu diesen Bericht verfasst
Am 21. September soll in Oberrohrdorf an drei historische Ereignisse erinnert werden. In einer Serie werden diese kurz erläutert. Nach der ...
Am 21. September feiert die Gemeinde drei historische Ereignisse. Alt Vizeammann Dr. René Roca hat dazu diesen Bericht verfasst
Am 21. September soll in Oberrohrdorf an drei historische Ereignisse erinnert werden. In einer Serie werden diese kurz erläutert. Nach der Ersterwähnung Staretschwils nun die Aufteilung der Grossgemeinde Rohrdorf: Vor 170 Jahren teilte sich die Grossgemeinde «Rohrdorf» in die drei politischen Gemeinden Niederrohrdorf, Remetschwil sowie Oberrohrdorf.
Die Schweiz war seit 1798 von Frankreich besetzt und erlebte mit der Helvetik eine totale Umwälzung von Staat und Gesellschaft. Vorher war die Eidgenossenschaft (seit 1648 unabhängig vom deutschen Reich) ein Staatenbund mit einer komplizierten politischen Struktur, die von der Tagsatzung zusammen gehalten wurde. Bald nach 1798 brachen in der Schweiz Unruhen aus. Auch wenn mit der Helvetik fortschrittliches Gedankengut einfloss, war militärische Besetzung und Zentralismus dem Freiheitsdrang der Eidgenossen zuwider. Frankreich musste reagieren. Der französische Machthaber Napoleon Bonaparte verlangte, dass eine Schweizer Delegation nach Paris komme. In einer Ansprache an die Delegation sagte er: «Je mehr ich über die Beschaffenheit Eures Landes nachgedacht habe, desto stärker ergab sich für mich aus der Verschiedenheit seiner Bestandteile die Überzeugung der Unmöglichkeit, es einer Gleichförmigkeit zu unterwerfen; alles führt Euch zum Föderalismus hin.» Wie weise gesprochen, aber leider nicht ohne Hintergedanken. Am 19. Februar 1803 mussten die Schweizer die von Napoleon aufgesetzte «Mediationsakte» unterzeichnen. Die Akte kehrte zwar zur föderalistischen Tradition des Staatenbundes zurück, aber Frankreich zog weiterhin Geld und Soldaten aus der Schweiz ab. Souverän war unser Staat also noch nicht, sondern blieb faktisch ein französischer Vasallenstaat. Allerdings war die Mediation für den heutigen Kanton Aargau sozusagen die Geburtsstunde. Neben der Mediationsverfassung wurde für jeden Kanton, so auch für den neuen Kanton Aargau, eine separate Verfassung ausgearbeitet. Dabei gab es keinerlei Mitsprache der Kantonsbürger. Alle 19 Kantone waren nun gleichberechtigt, Untertanengebiete und Gemeine Herrschaften (wie zum Beispiel die Grafschaft Baden) existierten nicht mehr. Unser Land wurde gezwungen, bei der Finanzierung der napoleonischen Kriege mitzuhelfen. Zudem rekrutierten die Offiziere Napoleons in dieser Zeit ca. 12 000 Schweizer Soldaten für die französische Armee.
Der neue Kanton Aargau
Die Demokratie hatte schweizweit und im Kanton Aargau noch einige Mängel. Ein strenges Zensuswahlrecht sorgte dafür, dass nur etwa sieben Prozent der Bevölkerung, das hiess damals 9233 Männer, wahlberechtigte Aktivbürger waren. Eine Gewaltenteilung existierte praktisch noch nicht. Fast die gesamte Macht lag beim neunköpfigen Kleinen Rat (heute Regierungsrat). Das erste und wichtigste Ziel der kantonalen Behörden war, das willkürlich zusammengesetzte Gebiet zu einem Kanton zu verschmelzen. Der neue Kanton Aargau wurde in elf Bezirke eingeteilt. Die fünf Bauerngemeinden des Rohrdorferberges, also Niederrohrdorf, Oberrohrdorf, Staretschwil, Remetschwil und Busslingen, gehörten alle zum Bezirk Baden. Später kamen noch Vogelrüti und Holzrüti – nicht ohne Misstöne – zu Niederrohrdorf und der Sennhof zu Remetschwil. In jeder Gemeinde fanden separate Ortsgemeindeversammlungen statt, die über wichtige Gemeindeangelegenheiten entschieden. Die Gemeinden besassen damals keine öffentlichen Gebäude für Gemeinderat und Verwaltung. Dazu fehlte das Geld. Die Sitzungen fanden in privaten Stuben statt, und der Gemeindeschreiber arbeitete zu Hause. Auch ein Gemeindearchiv existierte lange nicht.
Die Bildung der Grossgemeinde Rohrdorf
Am 24. Dezember 1804 ersuchte der Friedensrichter Johann R. Vogler im Namen der Gemeinden Oberrohrdorf, Busslingen, Niederrohrdorf und Staretschwil den Bezirksamtmann, eine Gesamtgemeinde zu bilden. Bezirksamtmann Johann Ludwig Baldinger schickte bereits am 26. Dezember dem Kleinen Rat ein eigenes Schreiben. Darin behauptet er, er besitze ein Schreiben der genannten Gemeinden und diese wollten sich zu einer Gesamtgemeinde vereinigen. Ob und wie die Diskussionen in den einzelnen Gemeinden geführt wurden, ist quellenmässig nicht erschlossen. Baldinger benutzte mit seinem Brief die Gelegenheit, um die grossen Vorteile, die von einer Vereinigung zu erwarten seien, zu preisen. Er betonte vor allem drei Gründe, die für einen Zusammenschluss sprächen: 1. «Die grossen Vorteile für das Ökonomische», 2. «Für eine bessere Auswahl der Vorgesetzten» und 3. «Für die genauere Vollziehung der Verordnungen der Regierung». Auch heute noch werden besonders die ersten zwei Argumente angeführt, um eine Gemeindefusion zu begründen. Allerdings zeigen neuere Studien, dass diese Argumente einer Überprüfung mit der Realität nicht standhalten können. Ausser Nummer drei, aber da geht es ja auch um die bessere Durchsetzung der kantonalen Bestimmungen, also von «Oben», mit anderen Worten der Einschränkung der Gemeindeautonomie.
Der Kleine Rat gab dann am 28. Dezember 1804 dem Begehren Baldingers seine Zustimmung. Schon am 5. Januar 1805 – alles ging also über Weihnachten und Neujahr flott über die Bühne – konnte Baldinger die Vereinigungsurkunde an den Kleinen Rat schicken. Der Kleine Rat ratifizierte die Vereinigungsurkunde am 7. Januar 1805 «mit Vergnügen». Da anhand der Quellen nicht der ganze Ablauf detailliert dargestellt werden kann, stellt sich hinsichtlich des Entscheids für einen Zusammenschluss besonders die Frage nach der demokratischen Mitbestimmung der Gemeindebevölkerung. Leider fehlen für diese Zeit Gemeindeversammlungsprotokolle.
Erwähnt werden muss aber, dass Bezirksamtmann Baldinger offenbar ein umtriebiger Beamter gewesen war. Zudem war der Kleine Rat bestrebt, das Zusammenwachsen des neuen, heterogenen Kantons von «Oben nach Unten» zu unterstützen. Tatsache und quellenmässig belegt ist, dass bald nach der Vereinigung in den einzelnen Gemeinden Diskussionen begannen, die auf eine Trennung drängten. Dies weist eher auf den Umstand hin, dass die Gemeinden den Entscheid für den Zusammenschluss nicht freiwillig fällten. Die Tatsache einer «Grossgemeinde» wurde in den einzelnen Gemeinden immer wieder als «unnatürlich» und «willkürlich» gebrandmarkt. Auf dem europäischen Parkett begann nach dem gescheiterten Russlandfeldzug von 1812 der Abstieg Napoleons. Am Feldzug hatten auch etwa 9000 Schweizer Soldaten teilnehmen müssen, nur knapp 400 kamen zurück. Die Zahlen lassen sich nur schwer verifizieren. Ein grosses Elend war der Krieg allemal. Ich erinnere mich gut, wie wir immer wieder im Rahmen des Männerchors Staretschwil das «Beresina-Lied» sangen. Das Lied behandelt das Thema, dass die Schweizer Soldaten in der napoleonischen Armee, die beim Rückzug noch übrig waren, auf Geheiss Napoleons den Übergang über die Beresina sichern sollten. Dabei verloren viele ihr Leben. Der Schweizer Oberleutnant Thomas Legler soll das Lied oft während des Feldzuges vor und mit seinen Kameraden gesungen haben. Beim Singen dieses wehmütigen Liedes lief es mir jeweils kalt den Rücken herunter.
Mit dem Wiener Kongress 1815 und dem Ende der napoleonischen Herrschaft begann die Zeit der Restauration. Die Schweizer Delegation und die Siegermächte unterstützten, dass unser Land eigenständig blieb und die immerwährende Neutralität völkerrechtlich verankerte. Damit war das Versprechen verbunden, die Schweiz nicht anzugreifen. Die Schweiz ihrerseits musste sich verpflichten, keine militärischen Bündnisse mehr einzugehen und den Durchzug fremder Truppen durch ihr Gebiet zu verhindern. Das bewährte sich, die Schweiz wurde bis heute nie mehr militärisch besetzt.
Trennung nach stürmischen Zeiten
1854 trennten sich die Gemeinden am Rohrdorferberg wieder und bildeten drei unabhängige Einwohnergemeinden. Wie kam es zu dieser Kehrtwende? Bereits im Jahre 1813 reichten Niederrohrdorf und Remetschwil beim zuständigen Kleinen Rat die Bitte ein, die Grossgemeinde wieder aufzulösen. Hauptgrund war, dass man die dörflichen Angelegenheiten getrennt besser verwalten könne. So wurde zum Beispiel angeführt, dass nur eine Polizeiwache allein nicht in fünf Ortschaften für Ruhe und Ordnung sorgen könne. Der Kleine Rat wies das Gesuch zurück und bewilligte lediglich ein neues Gemeinde-Reglement.
In den folgenden Jahren stellten vor allem Remetschwil, aber auch Niederrohrdorf und Staretschwil weitere Gesuche, die aber alle abgelehnt wurden. In den Jahren der Restauration (1815 bis 1830) und der Regeneration (1830 bis 1848) erlebte der Kanton Aargau und auch die ganze Schweiz eine stürmische Zeit. So wurden im Kanton Aargau 1841 einige Klöster aufgehoben und in unserem Land fand 1847 sogar ein Bürgerkrieg, der sogenannte «Sonderbundskrieg», statt. Als Resultat gab sich die Schweiz 1848 bundesstaatliche Strukturen und die Bürger erhielten mit der Zeit mehr direktdemokratische Rechte. Dieses Erfolgsmodell führte schliesslich dazu, dass die Schweiz nicht mehr ein «Armenhaus» war, sondern auch dank der Industrialisierung und der Entwicklung der Volksschule eine Grundlage für den heutigen Wohlstand legte.
Aufgrund der verstärkten Mitsprache der Gemeindebürger waren die Gesuche um Trennung der Grossgemeinde im Gegensatz zum Zusammenschluss demokratischer abgestützt. Das Gesuch von 1853 schliesslich reichten die Gemeindevertreter, versehen mit vielen Unterschriften von Gemeindebürgern ein. Nach einigem Hin und Her kamen der Grosse und der Kleine Rat zur Überzeugung, die Grossgemeinde aufzulösen und drei neue Gemeinden zu bilden. In der Vernehmlassung billigten schliesslich alle fünf Ortsgemeinden die Aufteilung in drei politische Gemeinden: Fortan sollten Niederrohrdorf mit den Höfen Vogelrüti und Holzrüti, Oberrohrdorf mit Staretschwil sowie Remetschwil mit dem Sennhof und Busslingen je separate Einwohnergemeinden bilden. Das Trennungsdekret trat am 22. Mai 1854 in Kraft.
Staretschwil war interessanterweise gegen eine Trennung der Grossgemeinde und wenn doch, dann für eine Aufteilung in zwei Einwohnergemeinden. Später trat Staretschwil im Gegensatz dazu immer vehement für eine eigene Gemeinde, zumindest eine eigene Ortsgemeinde, ein. Doch diese politischen Kämpfe bilden das Thema des dritten und letzten Teils und sind Anlass, die Vorkommnisse vor 50 Jahren zu beleuchten.
René Roca, Lehrer und Historiker, Gemeinderat und Vizeammann in Oberrohrdorf-Staretschwil von 2006 bis 2021