«Mich haut nichts mehr aus den Socken»
31.05.2024 Oberrohrdorf-Staretschwil, Region RohrdorferbergChrista Cattin ist Mutter von drei Kindern. Sie führt als selbstständige Zahnärztin eine Praxis mit zehn Mitarbeitenden
Christa Cattin (55) ist Mutter von drei Kindern in Ausbildung. Scheinbar mühelos schafft sie den Spagat zwischen Beruf und Familie. Als Zahnärztin ...
Christa Cattin ist Mutter von drei Kindern. Sie führt als selbstständige Zahnärztin eine Praxis mit zehn Mitarbeitenden
Christa Cattin (55) ist Mutter von drei Kindern in Ausbildung. Scheinbar mühelos schafft sie den Spagat zwischen Beruf und Familie. Als Zahnärztin führt sie in Oberrohrdorf eine Praxis mit zehn Mitarbeiterinnen. Für einmal lässt sich Christa Cattin selbst auf den Zahn fühlen. Dabei verrät sie, wie sie in ihrem Leben mehrere «Ehrenrunden» gedreht hat. Und sie gibt Einblick in ihre neueste Freizeitbeschäftigung.
Das Gehör, so bekennt Christa Cattin habe berufsbedingt «etwas gelitten». Die vielen Jahre Arbeit mit dem hochtourigen Bohrer sei für das, was sie als ihre neueste Leidenschaft bezeichnet, eher suboptimal. Cattin steht nämlich kurz vor der Prüfung zur «Feldornithologin». Sie hat allerdings ihre Zweifel, ob sie die Prüfung im ersten Anlauf schaffen wird. Denn zu den Prüfungsaufgaben gehört auch das Bestimmen von mindestens dreissig Vogelarten. Dazu brauchts ein feines Gehör, um die Vogelstimmen erkennen zu können. «Kein Problem», sagt sie. «Wenn ich es nicht schaffe, nehme ich halt einen zweiten Anlauf.»
Sie weiss, von was sie spricht. Es gehört zu ihrer Vita, niemals aufzugeben. Schliesslich habe sie in ihrem Leben schon so manche «Ehrenrunde» gedreht.
Aus einer Mechanikerfamilie
Sie habe schon früh ihren eigenen Kopf gehabt. Nicht immer zur Freude der Mutter. Die fand, ihre Tochter brauche nicht ans Gymnasium zu gehen. Die Oberstufe würde genügen. Eine KV-Lehre auch. Ganz anders der Vater, der sie stets gefordert und gefördert habe. Ja, der Vater. Karl Schlauch. Er nimmt bis heute eine bedeutende Rolle im Leben von Christa Cattin ein. Karl Schlauch ist heute 93 Jahre alt. Und er steht noch immer jeden Tag in seiner mechanischen Werkstatt in Zürich-Altstetten. Dort steht er von Kindsbeinen an. Die Werkstatt «C. Schlauch» gibt es bald 100 Jahre. 1926 gegründet von Carl Schlauch, Christa Cattins Urgrossvater. Die Schlauchs entstammen einem alten deutschen Geschlecht aus Württemberg. Urgrossvater Carl ist als 19-Jähriger in die Schweiz eingewandert. Das alles geht aus einer selbst hergestellten Familienchronik mit allerlei Bildern und Grafiken hervor, die Christa Cattin mit ihrer ältesten Tochter Céline (18) in aufwendiger Kleinarbeit gefertigt hat. Das Werk umfasst nicht weniger als vier Bände.
Wäre es nach ihrer Mutter gegangen, Tochter Christa hätte das KV gemacht und wäre schliesslich in die elterliche Firma eingetreten. Ein Leben als Buchhalterin war nicht nach Christa Cattins Vorstellung.
Dabei schreibt sie noch heute für ihren Vater die Rechnungen, derweil Bruder Andreas (57), der das Alters- und Pflegezentrum in Dietikon leitet, die Buchhaltung besorgt. Aktuelle Fotos aus der Werkstatt des Grossvaters wirken wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Die Werkstatt aber gehört unteilbar zu Cattins Leben. Hier hat sie sozusagen ihre feinmechanischen Wurzeln erhalten, die es ihr ermöglichen, mikroskopisch kleine Dinge mit den Händen zu bearbeiten.
Wenn sie von ihrer Kindheit spricht, dann erzählt sie gerne Geschichten aus Vaters Werkstatt. Von den unzähligen Stunden, die sie schon als kleines Mädchen dort verbracht hat. Bei ihren Erzählungen scheint stets der Geruch des Schmieröls, mit der die tonnenschwere Presse geschmiert werden musste, im Raum zu hängen. Cattin redet schnell und präzise. Sie umschreibt ihre Anekdoten so, dass sie dem Zuhörer bildhaft erscheinen.
Sozusagen dreidimensionale Erzählungen mit Duftnote. Es ist, als könnte man die vom Schmierfett schwarzen Hände der kleinen Christa sehen, wie sie zwischen Schule und Hausaufgaben Tausende von Teilen stanzt und damit ihr Sackgeld verdient.
Sackgeld immer «verputzt»
Sackgeld, das aber nie weit gereicht habe. «Ich hab’s gleich wieder verputzt.» Zu verführerisch seien die leckeren Dinge in der nahen Dorfbäckerei gewesen. Später, als junge Studentin, ging das Geld grösstenteils für Reisen drauf. So konnte sie ihre Eltern schon mal mit der Ankündigung überraschen und auch überfordern: «Bin dann mal weg in Südamerika.»
Das fünfjährige Studium der Zahnmedizin dauerte bei Christa Cattin, die damals noch Schlauch hiess, ein Jahr länger als geplant. Was heisst schon planen? So genau war das mit dem Studium der Zahnmedizin auch nicht geplant. Noch Wochen zuvor stand die Ausbildung zur Sekundarschullehrerin auf Christa Cattins Zettel. Aber da kam ein Gespräch mit einem Schulkollegen in die Quere. Der hatte sich für die Zahnmedizin eingeschrieben. Worauf Christa Cattin, dank Beziehungen, kurzfristig eine Schnupperwoche bei einem Zahnarzt in Basel absolvieren konnte. Da habe es ihr den Ärmel reingenommen. «Das manuelle Arbeiten und der Kontakt mit den Patienten hat mir gefallen. So habe ich mich aus dem Bauch heraus umentschieden.»
Überhaupt würde sie in ihrem Leben öfter aus dem Bauch heraus entscheiden. Ergo habe sie sich ziemlich spontan in der Medizinischen Fakultät der Uni Zürich eingeschrieben. «Damit habe ich quasi die feinmechanische Familientradition fortgesetzt.»
Fortsetzung von Seite 17
Und wie! Der Chronist weiss aus eigener Erfahrung, welch geschickte Hände diese Frau hat. Sie ist in der Lage, freihändig am Patienten einen gebrochenen Zahn aufzumodellieren, sodass hinterher nichts von Künstlichkeit mehr zu erkennen ist. Eine ihrer langjährigen Assistentinnen bestätigt dann auch anerkennend: «Ja, sie hat schon ein feines Händchen.» Von nichts kommt allerdings auch bei Christa Cattin nichts. Nach dem Staatsexamen, das sie als Zweitbeste ihres Jahrganges abschloss, und der anschliessenden zweijährigen ersten Anstellung bei einem Zahnarzt in Wallisellen, bei dem sie die Grundfertigkeiten festigte, kehrte sie als Assistentin von Professor Dr. Peter Schärer an die Universität Zürich zurück (siehe Box auf dieser Seite).
Sie lernte beim Besten
Schärer war der erste Zahnarzt, der zum Dekan der Uni Zürich berufen wurde. Das war 1986. Daraufhin habe sie an der Poliklinik ein Jahr lang nur Notfälle behandelt. Nicht immer angenehm. Denn da sieht man sämtliche Abgründe menschlicher Kauwerkzeuge, bei denen es, wie Cattin sagt, «schon auch grusige Sachen zu sehen gibt.» «Nach diesen Erfahrungen kann mich heute nichts mehr aus den Socken hauen», sagt Cattin mit ihrem mitunter ansteckenden Lachen. Nach drei Jahren an der Uni, während denen sie auch Studenten ausbildete, landete sie in Schaffhausen. Dort praktizierte sie während acht Jahren bei Dr. Thomas Müller.
Dort, so sagt sie, würde sie wohl noch heute arbeiten. «Aber da habe ich meinen Mann kennengelernt.» Sie hat ihn beim Langlauf in Pontresina getroffen. «Im Wachsraum», wie sie präzisiert. Prof. Dr. Philippe Cattin (57) ist Ingenieur. Ein Aargauer, der seinen Abschluss als Doktor der Ingenieurwissenschaften an der ETH Zürich machte. Cattin ist Gründer und Leiter des «Department of Biomedical Engineering (DBE)» der Universität Basel. Auch er hat nicht den direkten Berufsweg gewählt. Nach der Schule absolvierte er eine Berufslehre als Physiklaborant und wechselte nach dem Studium an der Fachhochschule Brugg-Windisch an die ETH Zürich. Heute entwickelt er zukunftsweisende Technologien wie Künstliche Intelligenz und Roboter, um die Chirurgie von morgen zu revolutionieren. «Er unterstützt mich aber auch, wenn in unserer Praxis etwas nicht funktioniert», sagt Christa Cattin. «Wir haben zu Hause drei «3D Drucker». Das ist sein Steckenpferd. Anstatt Netflix haben wir eine kleine Forschungsstation zu Hause.»
Christa Cattin zog mit ihrem Mann nach Zollikerberg. 2005 haben sie geheiratet. Die beiden sind heute Eltern von drei Kindern, Céline (18), Cédric (17) und Simone (14).
Übernahme einer eigenen Praxis
2008 zog die Familie nach Windisch. Christa Cattin arbeitete an verschiedenen Orten in der Region, ehe sie nach Oberrohrdorf, in die Praxis von Dr. Zuzana Kadlcik wechselte. Vorher besuchte sie aber noch einen zweijährigen Masterstudiengang in Düsseldorf.
Sie schloss mit dem Titel «Master of Science» für mikroskopische Wurzelbehandlung erfolgreich ab. Voller Stolz sagt sie: «Seither erhalte ich Überweisungen von Kollegen. Das freut mich sehr.» Wie konnte sie das alles mit Familie, Weiterbildung und beruflicher Tätigkeit unter einen Hut bringen? «Mein Mann und ich funktionieren als Team. Er hilft mir sehr.» Auch habe sie jeweils nur 60 Prozent gearbeitet. «Ich habe das Glück, eine wunderbare Schwiegermutter zu haben, die mich immer unterstützt. Sie ist mein persönlicher Engel.» In Oberrohrdorf landete Christa Cattin deshalb, weil Dr. Zuzana Kadlcik ihr Pensum reduzieren wollte und eine Nachfolgerin für ihre erfolgreiche Praxis suchte. «Auch hier habe ich eine ‹Ehrenrunde› gemacht. Denn bei der Praxisübernahme war ich bereits 49. Das ist reichlich spät.» Aber lieber spät als nie.
Während zweieinhalb Jahren bildeten Cattin und Kadlcik ein kollegiales Team. Es spricht für sich, dass die Praxis ausgebucht war. Als neuer Patient einen Termin zu bekommen, war nur auf persönliche Empfehlung möglich. Am 1. Januar 2018 war es so weit: Christa Cattin übernahm die Praxis als Alleinunternehmerin. Vorher begleitete die ganze Familie noch Philippe Cattin zu einem halbjährigen Forschungsaufenthalt an die Harvard Universität. «Wir lebten in dieser Zeit in Boston in den USA. Die Kinder gingen dort für sechs Monate in eine öffentliche Schule. Es war eine fantastische Zeit für uns alle.»
Verwirklichung einer Vision
Die Praxis beschäftigt heute zehn Mitarbeiterinnen. Darunter mit Dr. med. dent. Erica Buck eine zweite Zahnärztin aus Oberrohrdorf. «Arbeitgeberin zu sein, ist schon eine spezielle Herausforderung», sagt Cattin. Neben der zeitraubenden Administration liebt sie aber immer noch die Behandlungen am Stuhl, den Austausch mit den Patienten und dem Team. Sie betont, dass der Erfolg nur im Team möglich sei. «Es ist eine Teamleistung. Wie bei einem Mosaik, das sich aus vielen verschiedenen Teilen zusammensetzt.» Die Zeit der Pandemie sei für das ganze Team sehr herausfordernd gewesen. «Aber wir haben es gemeinsam gut überstanden.»
Zusammenfassend sagt sie: «Selbstständig eine Praxis zu führen, ist ein wirklich neuer Aspekt in meinem Leben. Die Verwirklichung dieser Vision, zufriedene und schmerzfreie Patienten zu erleben und etwas zu erschaffen, das erfüllt mich mit Stolz. Vor allem aber mit Dankbarkeit und Freude.»
Beat Gomes
Berufliche Werdegang und Stationen von Christa Cattin
1989 – 1995: Studium an der Zahnmedizinischen Fakultät der Universität Zürich.
1995: Staatsexamen, Universität Zürich (Auszeichnung mit Notendurchschnitt 5,5).
4/1996 – 2/1998: Assistenztätigkeit bei Dr. Daniel Altherr in Wallisellen.
1997: Promotion zum Doktor der Zahnmedizin.
3/1998 – 3/2000: Postgraduale Ausbildung bei Professor P. Schärer an der Klinik für Kronen- und Brückenprothetik, Teilprothetik und zahnärztliche Materialkunde der Universität Zürich.
0/2000 – 2/2001: Postgraduale Ausbildung bei Prof. H. F. Sailer / Dr. G. Pajarola an der Poliklinik für Orale Chirurgie der Universität Zürich.
3/2001 – 6/2008: Privatpraxis Dr. Thomas Müller in Schaffhausen.
2001 – 2010: Stellvertretende Ortspräsidentin der Zahnmedizinischen Fakultät Zürich.
3/2006 – 8/2009: Implantologische Tätigkeit bei Dr. Dominique Keller, Rheinfelden.
2/2010 – 5/2012: Privatpraxis Dental Center Limmattal, Dietikon.
6/2012 – 5/2015: Privatpraxis Dr. Viktor Schifferle/Lampe Bless in Kleindöttingen AG.
2012 – 2014: Master of Science in Endodontologie, Heinrich Heine Universität Düsseldorf (Abschlussnote: excellent).
5/2015 – 12/2017 Privatpraxis Dr. Zuzana Kadlcik.
1/2018: Übernahme der Zahnarztpraxis in Oberrohrdorf von Dr. Zuzana Kadlcik.