Zusammen – und doch ganz eigenständig
31.07.2024 Oberrohrdorf-Staretschwil, Region RohrdorferbergAm 21. September feiert die Gemeinde drei historische Ereignisse. Alt Vizeammann René Roca hat dazu diesen Bericht verfasst
Am 21. September wird in Oberrohrdorf an drei historische Ereignisse erinnert. In einer Serie von Artikeln werden diese kurz erläutert. Nach der ...
Am 21. September feiert die Gemeinde drei historische Ereignisse. Alt Vizeammann René Roca hat dazu diesen Bericht verfasst
Am 21. September wird in Oberrohrdorf an drei historische Ereignisse erinnert. In einer Serie von Artikeln werden diese kurz erläutert. Nach der Ersterwähnung Staretschwils und der Aufteilung der Grossgemeinde Rohrdorf wird nun das letzte Ereignis dargelegt: die Auflösung der beiden Ortsgemeinden Oberrohrdorf und Staretschwil vor 50 Jahren.
Viele werden sich fragen, was eigentlich «Ortsgemeinden» sind oder waren, denn heute gibt es diese im Kanton Aargau nicht mehr. Ein Jurist definierte einmal die aargauischen Ortsgemeinden in seinem eigenen Deutsch folgendermassen: «Es sind öffentlichrechtliche, der Aufsicht des Staates und der Gesamtgemeinde unterstehende autonome Körperschaften innerhalb einer Gesamtgemeinde, mit dem Zwecke der Erfüllung mehrerer Gemeindeaufgaben.» Mit «Staat» ist der Kanton Aargau gemeint und mit der «Gesamtgemeinde» in unserem Fall die Gemeinde Oberrohrdorf-Staretschwil, die seit der Gemeindetrennung von 1854 existierte.
Mit der Gründung des neuen Kantons Aargau 1803 wurde das Gemeindewesen neu geordnet. Die Gemeinden erhielten allgemein mehr Autonomie, weiterhin gab es neben den Einwohnergemeinden die Ortsbürgergemeinden. Die Ortsbürgergemeinden bestanden ausschliesslich aus «Alteingesessenen», also denjenigen mit Ortsbürgerrecht. Zu den Einwohnergemeinden wurden alle Einwohner der Gemeinde, also auch die Zugezogenen, gezählt. Stimmberechtigt waren alle Männer – und seit 1971 endlich auch die Frauen.
Weniger gemeindliche Aufgaben
In unserer Gegend entstand im Zuge der Kantonsgründung 1804 neben den dörflichen Ortsbürgergemeinden als Einwohnergemeinde die Grossgemeinde Rohrdorf. Sie war demokratisch in den einzelnen Gemeinden nicht abgestützt. Bei der Trennung der Gemeinde Rohrdorf 1854 entstanden die Einwohnergemeinden Niederrohrdorf (mit Vogelrüti und Holzrüti), Remetschwil (mit Busslingen) sowie Oberrohrdorf mit Staretschwil. Falls eine Einwohnergemeinde aus mehreren ehemaligen Dorfgemeinden bestand, behielten diese in der Regel ihre Ortsbürgergemeinde, welche im Besitz der Bürgergüter war. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts besassen die Ortsbürgergemeinden aber immer weniger gemeindliche Aufgaben. So ging als letzte Aufgabe auch noch das Armenwesen zu den Einwohnergemeinden über. Die Ortsbürger von Oberrohrdorf und diejenigen von Staretschwil besassen damit nur noch den Gemeindewald, hielten aber beide an ihrer Ortsbürgergemeinde fest. Hier sehe ich die Geburtsstunde der Ortsgemeinden. Die einzelnen Dörfer, bei uns Staretschwil und Oberrohrdorf, wollten ihre Aufgaben selbstständiger regeln und da die Ortsbürgergemeinden dies nicht mehr durften, gründeten sie Ortsgemeinden. Die Ortsgemeinden waren, wie erwähnt, den Einwohnergemeinden unterstellt. Stimmberechtigt waren die dort wohnenden Bürger. Mit der Trennung von «Rohrdorf»1854 kam Staretschwil gemäss einer Vollziehungsverordnung des Grossen Rates an die Gemeinde Oberrohrdorf, also nicht freiwillig. Damit lag schon mal eine erste «Leiche im Keller». Offiziell hiess die Einwohnergemeinde nun Oberrohrdorf, aber die Kantonsbehörden machten Kompromisse: gemeindeintern wurde und wird noch teilweise die Bezeichnung Oberrohrdorf-Staretschwil verwendet. Wenn man heute auf der Kantonsstrasse, ob von Remetschwil oder Fislisbach her kommend, in unsere Gemeinde läuft oder fährt, begrüssen einem nach wie vor die Ortstafeln Oberrohrdorf-Staretschwil.
Wieso fanden eigentlich Oberrohrdorf und Staretschwil schon vor 1854 nie richtig zueinander? Ein historischer Grund liegt darin, dass Staretschwil über ein halbes Jahrtausend vom Kloster Wettingen verwaltet wurde, Oberrohrdorf aber vollständig von Baden dirigiert und abhängig war. Offenbar hielt Wettingen die Zügel lockerer und Baden war rigider. Die Staretschwiler konnten eher schon mal an der Freiheit und Unabhängigkeit schnuppern, in der Regel lässt einem das nicht mehr los. Davon zeugt die ganze Schweizer Geschichte. Aus diesem Grund und weil die Dörfer noch nicht zusammengewachsen waren, entwickelten sich keine engeren Beziehungen. Zwang von Oben, sprich vom Kanton, förderte auch nicht gerade eine gedeihliche Freundschaft. So regte sich in Staretschwil immer stärker der Wille zu mehr Eigenständigkeit und man strebte mehr Autonomie an. Deshalb verlangten die Staretschwiler für ihre Ortsgemeinde immer mehr Kompetenzen und Oberrohrdorf zog jeweils nach. Ende des 19. Jahrhunderts strebten die Staretschwiler die Abtrennung der Schule von Oberrohrdorf an. Der Kanton genehmigte schliesslich diese Lösung und im Jahr 1894 baute Staretschwil ein eigenes Schulhaus (heute die Musikschule neben dem Kindergarten Staretschwil) und führte eine eigene Schulrechnung. Wenig später kam die Wasserversorgung dazu, dann noch das Strassenwesen, das Hochbauwesen, die Ortssteuerverwaltung und sogar das «Zuchtstierwesen»! Danach kam auch noch die Stromversorgung dazu. Die Ortsgemeinde Oberrohrdorf erhielt die erwähnten Aufgabenbereiche auch, zumindest da herrschte Gleichstand.
Unsere beiden Gemeinden waren auch nicht die einzigen im Kanton, die Ortsgemeinden besassen. So kannten dies zum Beispiel auch Bellikon und Hausen oder Künten und Sulz.
Feuerwehr und Dorfbeleuchtung
Die konkreten Aufgabenbereiche oder Verwaltungszweige waren teilweise die gleichen oder auch andere, wie zum Beispiel das Feuerwehrwesen oder die Dorfbeleuchtungsanlage. Der Kanton nahm die Sache damals noch recht locker, da erst wenige Verwaltungsstellen existierten und sich der Drang nach Zentralisierung in Grenzen hielt. Im Gemeindeorganisationsgesetz von 1841, das erstmals Ordnung in das aargauische Gemeindewesen hätte bringen sollen, wurden die Ortsgemeinden gar nicht erwähnt.
Da die Ortsgemeinden danach historisch gewachsen waren, wollte sie der Kanton auch in den folgenden Jahrzehnten nicht antasten. In einem Rechenschaftsbericht von 1904 führte der aargauische Regierungsrat hinsichtlich der Ortsgemeinden in Leuggern aus, dass man eine Untersuchung eingeleitet und überprüft habe, ob es nicht möglich sei, «die ungesetzlichen Verhältnisse in der Gemeinde Leuggern zu beseitigen, allein man stiess dabei auf solche althergebrachten und eingelebten Zustände, dass deren Beseitigung zu schweren Konflikten hätte führen müssen. Alle Instanzen fanden es daher nicht tunlich, das Vorhaben zur Ausführung zu bringen. Ähnlich mögen die Verhältnisse auch anderwärts liegen.» Ja, zum Beispiel in unserer Gemeinde! Der Regierungsrat liess also lieber die Finger davon, war aber entschlossen, keine neuen Ortsgemeinden im Kanton mehr zuzulassen. Die bestehenden Ortsgemeinden ordnete man, juristisch gesprochen, dem «Gewohnheitsrecht» zu. In einem Urteil des aargauischen Obergerichts von 1940 in der Sache Ortsgemeinde Reuenthal sei eben «mit den geschichtlich gewordenen Zuständen zu rechnen und von ihnen ist bei der Lösung auftauchender Probleme auszugehen». Ein durchaus vernünftiger Ansatz, der die Gemeindeautonomie stärkte.
Nach 1945 wurden im Kanton Aargau immer mehr Ortsgemeinden aufgelöst und ihre Aufgaben von der Gesamtgemeinde übernommen (1948 noch 23 Ortsgemeinden, 1967 nur noch 15). Die Dörfer wuchsen aufgrund des Bevölkerungswachstums und der baulichen Entwicklung immer mehr zusammen. Dazu kam, dass ab Anfang der 1960er-Jahre die Kantonsbehörden bestrebt waren, immer mehr Gemeindeaufgaben zentral zu reglementieren. Jeglichem «Wildwuchs» wollte man entgegentreten. In diesem Sinne erliess die Direktion des Innern 1961, dass die bisher getrennten Familienregister von Oberrohrdorf und Staretschwil im Zivilstandsamt der Gesamteinwohnergemeinde Oberrohrdorf zusammengelegt wurden. Der Gesamtgemeinderat wollte das eigentlich nicht und schrieb zurück, «dass es nicht ausgeschlossen ist, dass sich die beiden Ortschaften einmal trennen». Doch die aargauische Regierung hielt fest: «Zur Klärung sei festgehalten, dass es nur Gemeindebürger der Einwohnergemeinde Oberrohrdorf gibt; Gemeindebürger von Staretschwil kommen nicht vor.» Ein klares Verdikt. Als im Laufe der 1960er-Jahre die Schülerzahlen in Oberrohrdorf-Staretschwil immer mehr anstiegen, war das Erziehungsdepartement in Aarau nicht mehr bereit, an beide Ortsgemeinden Beiträge für neue Schulhausbauten zu sprechen, desgleichen bei der Wasserversorgung. Nun wurde es den Staretschwilern zu viel. Sie gingen aufs Ganze und wollten eine eigene politische Einwohnergemeinde bilden (ähnlich wie das schliesslich 1983 für Arni und Islisberg realisiert wurde). Im Sommer 1965 stimmte die Staretschwiler Ortsgemeinde für eine vollständige Trennung von Oberrohrdorf, das seinerseits dagegen war. Die Ortsgemeinden unterstanden, wie erwähnt, der Gesamtgemeinde. Also sollte die Gesamteinwohnergemeinde-Versammlung vom 8. Juni 1965 die Entscheidung bringen: 145 Stimmen waren für den Zusammenschluss und 59 für die Trennung, will heissen, Staretschwil wurde ausgebremst, die zweite «Leiche im Keller».
Nun erlahmte der Widerstandswille der Staretschwiler, aber eben, es blieben «Wunden zurück». Und das kann man verstehen. Der Kanton, die «Aufsicht des Staates», führte den letzten «Schlag». Die beiden Ortsgemeinden existierten noch ganze acht Jahre lang, bis auch sie im Zusammenhang mit der Schulfrage aufgehoben wurden.
Die Aufhebung der Ortsgemeinden
Beide Ortsgemeinden einigten sich schliesslich 1973, sozusagen «auf der Grenze» das neue Schulhaus Hinterbächli gemeinsam zu bauen und die Schule somit der Gesamtgemeindeverwaltung zu unterstellen. Auch die Staretschwiler stimmten diesem Kompromiss zu. Schliesslich beschloss der Regierungsrat auf den 1. Januar 1974 die Aufhebung der beiden Ortsgemeinden Staretschwil und Oberrohrdorf. Und das sollen wir jetzt feiern?
Undemokratisches Verhalten und Diktate von Oben kann man sicher nicht feiern. Aber was wir feiern können, ist einerseits der Unabhängigkeits- und Widerstandswille von Staretschwil und andererseits der Wille von Oberrohrdorf, sich nicht trennen zu lassen und einen gemeinsamen Weg gehen zu wollen. Die Auseinandersetzungen waren teilweise heftig. Seither ist aber viel Wasser das Hinterbächli runtergeflossen. Vor 20 Jahren (ein weiteres Jubiläum!) verhinderte Oberrohrdorf-Staretschwil die Fusion mit Niederrohrdorf. Damit wäre wohl der Name Staretschwil ganz verschwunden. Alle arbeiten seither gut zusammen. Hoffentlich können am 21. September alle Wunden verheilen und der ganze Rohrdorferberg kann feiern!
René Roca, Lehrer und promovierter Historiker, Gemeinderat und Vizeammann in Oberrohrdorf-Staretschwil von 2006 bis 2021.