Das Doppelleben von Secondos und Secondas
30.08.2024 Wohlenschwil, Region ReusstalZecije Maliqi hat eine Arbeit über Postmigrantinnen und Postmigranten verfasst und fragt nach Herausforderung und Potenzial
«Meine Heimat ist die Schweiz», sagt Zecije Maliqi selbstsicher. Teil ihrer Identität sind aber auch die albanischen Wurzeln ihrer Eltern. In einer ...
Zecije Maliqi hat eine Arbeit über Postmigrantinnen und Postmigranten verfasst und fragt nach Herausforderung und Potenzial
«Meine Heimat ist die Schweiz», sagt Zecije Maliqi selbstsicher. Teil ihrer Identität sind aber auch die albanischen Wurzeln ihrer Eltern. In einer Bachelor-Arbeit untersucht sie, wie junge Menschen, die hier geboren sind, mit dem damit verbundenen Potenzial und mit den Herausforderungen umgehen können.
Ich bin in Glarus geboren und heute in Wohlenschwil daheim», sagt Zecije Maliqi. Die junge Frau, deren Name so gar nicht schweizerisch klingt, sagt es lächelnd, ruhig. Und mit Nachdruck. «Woher kommst Du?» werde sie dennoch manchmal nach ihrer Identität gefragt. Während andere Secondos und Secondas – als solche werden die in der Schweiz geborenen Kinder von immigrierten Familien bezeichnet – diese Frage häufig mit «ich weiss es nicht» beantworten, sagt sie selbstsicher: «Meine Heimat ist die Schweiz». Allerdings gefolgt vom Zusatz: «Meine Eltern kommen aus dem Balkan.» Arbeitsmigranten aus dem Kosovo, deren Sohn und zwei Töchter in Glarus sozialisiert wurden, unter grosser Erwartungshaltung ihrer Eltern: Mit viel Ehrgeiz sollten die Töchter und der Sohn den schulischen Erfolg anstreben.
Dem familiären Bildungsdruck war Zecije Maliqi als gute Schülerin durchaus gewachsen. Vor kurzem hat die 34-jährige Mutter einer kleinen Tochter ihr Bachelor-Studium an der Hochschule für Soziale Arbeit in Olten, die zur Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) gehört, abgeschlossen. Allerdings dürfte sie diese Erwartungshaltung als jüngstes Kind auch am unbeschwertesten erlebt haben, wie sie selber sagt. Die beiden älteren Geschwister hatten vorgespurt und die elterlichen Bildungs-Erwartungen bereits erfüllt.
Sie weiss um die Zerrissenheit
Zu Zecije Maliqis Studien-Abschluss an der FHNW gehört eine Bachelor-Arbeit, die den Titel trägt: «Die Postmigrantische Gesellschaft zwischen den Kulturen». Maliqi untersucht Fragen, die sie als junge Frau selbst beschäftigten. Sie betrachtet die Situation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in der Schweiz geboren sind, deren Eltern aber aus einem anderssprachigen Land hierher migrierten. In ihrer Bachelor-Arbeit stellt sie die Frage sowohl nach Herausforderungen als auch nach dem Potenzial, die eine solche Situation für die Soziale Arbeit darstellt.
Als Teil dieser postmigrantischen Gesellschaft musste sich Zecije Maliqi selbst «zwischen der Kultur des Herkunftslandes (Kosovo) und den Herausforderungen des Aufnahmelandes der Eltern (Schweiz) ihren eigenen Platz und ihre eigene kulturelle Verortung konstruieren». Sie kenne das Gefühl, meint sie, wenn man eine diffuse Zerrissenheit verspüre und stets die Ambivalenz in sich trage, die das Aufwachsen in verschiedenen Kulturkreisen erzeugten. Mal sei mehr Distanz zur Herkunftskultur nötig, dann wieder müsse man sich gegen herrschende kulturelle Muster im Aufnahmeland, also in der Schweiz, stellen.
Die Spannungen in den Familien
Fest steht: Secondos und Secondas leben zwischen zwei Kulturen, sie führen sozusagen ein Doppelleben. Fühlen sie sich mehr zur Kultur ihres Aufnahmelandes hingezogen, kann das zu innerfamiliären Spannungen führen. Entscheiden sie sich hingegen für die Herkunftskultur – also diejenige ihrer Eltern – müssen sie mit Ausgrenzung und Benachteiligung in der Schule und am Arbeitsplatz rechnen.
Wie also nehmen junge Secondos und Secondas Ungleichheiten wahr? Wie erleben sie Diskriminierung, Vorurteile oder Benachteiligung? Welche Bewältigungsstrategien entwickeln sie in der Folge? Keine einfache Fragestellung. Auch deshalb, weil in der Schweiz dazu nur wenig Untersuchungen existieren. Zecije Maliqi stützt sich für ihre Bachelor-Arbeit hauptsächlich auf Untersuchungen und wissenschaftliche Literatur aus Deutschland.
Sprachlosigkeit und Scheu der Eltern
Sie schreibt, dass sich die Schulzeit für viele Migrantenfamilien als entscheidende Phase erweist. Eltern können ihre Kinder oft nicht optimal unterstützen, weil ihnen Sprach- und Kulturkenntnisse fehlen. Sprachbarrieren der Eltern, auch Scheu vor Elternabenden und anderen Informationsquellen behindern nach wie vor die Chancen ihrer Kinder. Letztlich kann das dazu führen, dass Wissenslücken den Schulerfolg der Kinder behindern. Dabei zeigen ihre Lebensentwürfe in Bezug auf die berufliche Ausbildung die gleichen Aufstiegswünsche wie diejenigen von Schweizer Jugendlichen. «Benachteiligung und Diskriminierung führen schon während der obligatorischen Schule dazu, dass sich viele nicht für eine tertiäre Ausbildung entscheiden und eine Lehre absolvieren», schreibt Zecije Maliqi.
Andererseits passen sich Kinder in der Regel schnell der neuen Situation an und erwerben früher als ihre Eltern interkulturelle Kompetenzen. Die «Aussenkompetenz» vom Vater als Familienoberhaupt kann sich aus diesem Grund teilweise auf die Kinder verlagern. In der Familie bietet diese Rollenverschiebung aber zusätzliches Konfliktpotenzial, weil dadurch auch traditionelle, familiäre Muster in Migrantenfamilien hinterfragt werden.
Wie sich die Ablösung verschärft
Generationenkonflikte kennen weltweit alle Familien in der Ablösungsphase. Wie Zecije Maliqi festhält, nehmen solche Konflikte in einem Migrationsumfeld aber zu, weil neben Auflehnung und Ablösung auch Kulturkonflikte in der Familie hinzukommen. «Oft tun sich Gräben zwischen Eltern und Kindern auf, weil sich die Kinder und Jugendlichen den Werten der Aufnahmegesellschaft mehr verbunden fühlen als jenen der Eltern.» Maliqi erklärt, die Kinder würden ihre Eltern nach wie vor als Autoritätspersonen erleben, verbunden auch mit Macht. Von ihren Kindern erwarten die Eltern Dankbarkeit. Gleichzeitig erleben die Kinder in ihrem Alltag die Sprachlosigkeit ihrer Eltern. «Sie unterstützen sie beim Lesen von amtlichen Dokumenten», sagt die Wohlenschwilerin, «begleiten sie vielleicht auch zum Arzt.»
Heute fordert die Interkulturelle Soziale Arbeit in der Schweiz eine gleichberechtigte Teilnahme und Teilhabe von Migrantenpopulationen. So sollen etwa Ungleichheiten, in welchen sich migrantische und postmigrantische Menschen befinden, nicht zum Verschwinden gebracht werden, sondern als neue Mischformen definiert und reflektiert werden. Es entsteht so eine «neue Kulturalität», die auch unterschiedliche Denkmuster und Fragestellungen zulässt.
Wo Soziale Arbeit ansetzen kann
Zwar ist Zecije Maliqis Zugang zu diesen Fragen ein wissenschaftlicher, theoretischer. Die junge Frau bringt die Theorie aber auch in die Praxis. Im Rahmen eines Praktikums in Baden fragte sie nach und wollte die jungen Leute kennen lernen, interessierte sich für ihre «Interkulturalität».
Wenn junge Menschen zu ihr kommen und meinen, sie könnten «nicht wirklich etwas lernen, weil sie Ausländer sind», dann könne die Soziale Arbeit genau hier ansetzen, erklärt sie. Gleichzeitig wertet eine solche Aussage aber schon auch mal als bequemen und einfachen Ausweg. Ein solcher Satz komme auch eher, erwähnt sie nebenbei, von jungen Menschen aus der dritten Generation der Migranten. Denn Migrantinnen und Migranten in dritter Generation hätten bereits einen weiteren Wandel erlebt. Die Erwartungshaltung der Eltern gegenüber dem schulischen Erfolg ihrer Kinder habe sich abgeschwächt. Der Druck von daheim habe abgenommen. «In der Sozialen Arbeit geht es nun darum, neue Wege zu zeigen, die ganze Palette an Optionen und Möglichkeiten.» Dazu gehöre aber auch bei jedem Einzelnen auf ein Stück Eigenverantwortung zu pochen.
Maliqi: «Ich bin überdankbar»
Wohlenschwil ist heute Zecije Maliqis Lebensmittelpunkt. Hier lebt sie seit einigen Jahren mit ihrem Mann und der inzwischen vierjährigen Tochter. An der letzten Gemeindeversammlung in Wohlenschwil stimmte sie über Schulerweiterung und Entwässerungsplanung ab. In diesen Tagen macht ihre kleine Tochter ihre ersten Erfahrungen im Kindergarten. Zecije Maliqi und ihr Mann haben die Vierjährige gut darauf vorbereitet. Maliqi hat vorübergehend ihr Arbeitspensum reduziert, weil sie, wie sie sagt, ihr Kind «in dieser Anfangsphase eng begleiten möchte».
Schweizerin oder Albanerin? Zecije Mailiqi hat für sich selbst eine Antwort auf die Frage nach Identität und Herkunft gefunden. «Ich bin überdankbar, dass mir meine Eltern die Sprache und Kultur ihrer Heimat mitgegeben haben», sagt sie. Und doch steht sie, gemeinsam mit ihrem Mann, der ebenfalls albanische Wurzeln hat, nun vor der Frage: «Was wollen wir unserer Tochter weitergeben?» Eine Migrantin in dritter Generation.
Dass sich die kulturellen Muster, die Zecije Maliqi und ihren Mann als Vertreter der zweiten Generation geprägt haben, verändern, wurde bereits erwähnt. Die Maliqis überlegen sich, wie sie es mit der Sprache halten wollen, wie mit der Religion? Auch die starken Familienbande, ein Zusammenhalt, den beide sehr schätzen, gehört dazu. «Mein Mann und ich haben in diesen Fragen einen guten Konsens gefunden», meint Zecije Maliqi. Selbstverständlich ist das nicht.
Heidi Hess