Der Grosse Rat im Wandel der Zeit
27.09.2024Seit der Kantonsgründung 1803 erfuhr der Grosse Rat viele Änderungen – eine geschichtliche Auslegung von Hans-Peter Widmer
Seit der Kantonsgründung 1803 erfuhr der Grosse Rat viele Änderungen im Wahlverfahren, in der Grösse, der politischen Zusammensetzung, ...
Seit der Kantonsgründung 1803 erfuhr der Grosse Rat viele Änderungen – eine geschichtliche Auslegung von Hans-Peter Widmer
Seit der Kantonsgründung 1803 erfuhr der Grosse Rat viele Änderungen im Wahlverfahren, in der Grösse, der politischen Zusammensetzung, der Geschäftsorganisation und Aufgabenfülle. Sie spiegeln den staatspolitischen und gesellschaftlichen Wandel der vergangenen 221 Jahre.
Die 405 Kandidatinnen und 618 Kandidaten, die am 20. Oktober in den elf Bezirken ein Grossratsmandat anstreben, müssen «in bürgerlichen Ehren stehen» und mindestens 18-jährig, also stimm- und wahlfähig sein. Das hätte bei den ersten Grossratswahlen am 6. April 1803 nicht genügt. Denn die Architekten des neu gegründeten Kantons Aargau entwarfen ein kompliziertes Verfahren, das trotz der Volkswahl deutlich machte, dass die Kluft zwischen Obrigkeit und Untertanen nicht überwunden war. Neben den Frauen und den Einwohnern jüdischen Glaubens war ein grosser Teil der erwachsenen männlichen Bürger nicht stimmberechtigt und schon gar nicht wahlfähig.
Eingeschränktes Wahlrecht
Verheiratete durften ab dem 20. Altersjahr, Unverheiratete erst nach dem 30. Geburtstag wählen. Das Stimmrecht war auch an ein Mindestvermögen gekoppelt. Den Dienstboten, Handwerksgesellen und Armengenössigen wurde die Stimmberechtigung zum Vornherein abgesprochen. Diese Einschränkungen reduzierten die Aktivbürgerschaft auf geringe 9233 Personen – bei 130 487 Kantonseinwohnern. In den 25 katholischen und 23 reformierten 48 Wahlkreisen wurde ein Drittel der 150 Grossräte direkt gewählt, der Rest durch das Los bestimmt.
Das Los-Zufallsprinzip und einige unlautere Manöver mit gefälschten Wahlzetteln führten zu einer überraschenden Zusammensetzung des ersten Grossen Rates. Die liberalen Kantonsgründer, die mit den politischen Schwergewichten Stapfer, Rengger, Rothpletz, Herzog von Effingen als «Aargauerpatrioten» auftraten, erzielten nur drei Dutzend Mandate. Dagegen gewannen die «Insurgenten» – Konservative, Berntreue, Mitläufer der Badenerpartei, Stecklikrieger (Aufständische gegen die Helvetische Republik) – mit 116 Sitzen die absolute Mehrheit.
Keine Gewaltenteilung
Von Gewaltenteilung war keine Rede. Die Mitglieder des Kleinen Rates (Exekutive) sowie zehn von dreizehn Appellationsrichtern (Judikative) und acht von elf Bezirksamtmännern gehörten gleichzeitig dem Grossen Rat an. Der Vorsitzende des Kleinen Rates präsidierte auch den Grossen Rat. Die politische Macht lag bei der neunköpfigen Regierung. Das Parlament konnte Gesetze, nur annehmen oder ablehnen, eine Beratung stand ihm nicht zu. Philipp Albert Stapfer wollte dem Grossen Rat zwar mehr Einfluss geben, aber Napoleon, Mediator und Imperator des Aargaus, wischte den Vorschlag unter den Tisch.
Im ersten Jahr versammelte sich der Grosse Rat zu drei Sessionen an insgesamt 31 Tagen; im zweiten Jahr waren 32 Sitzungstage mit einer sechswöchigen Session im Mai/Juni nötig. Später genügten zwei Sessionen im Mai und November. Die meisten Grossräte blieben in den Verhandlungen stumm. 30, 40 fehlende Ratsmitglieder waren keine Seltenheit. Das Grossratsmandat galt als ehrenamtlich. Nur den von den Kreisversammlungen direkt gewählten 50 Ratsmitgliedern hätte ein Taggeld ausgerichtet werden können – was offenbar nirgends geschah –, für die 100 Ausgelosten gab es nichts.
Im Auge des Sturms
Trotz Widerwärtigkeiten machte der junge Kanton rasche Fortschritte. Doch seine Existenz war noch nicht gesichert. Das wieder an die Macht gelangte Berner Patriziat verlangte sein altes aargauisches Untertanengebiet zurück. Der Wiener Kongress 1815 schützte zwar den Aargau, aber die Restauration gab konservativen Kräften neuen Auftrieb. Die vom Grossen Rat – ohne Volksabstimmung – in Kraft gesetzte neue Verfassung schränkte die Volksrechte wieder ein, erweiterte die Regierung auf 13 Mitglieder und verlängerte die Amtsdauer des Grossen Rates auf 12 Jahre. Das autoritäre Gehabe der Obrigkeit gefiel der Bevölkerung nicht. Am 6. Dezember 1830 eskalierte die Situation im «Freiämtersturm» und in einem Verfassungsumsturz mit der Neuwahl des Grossen Rates.
Volks- und individuelle Rechte wurden durch das obligatorische Verfassungsreferendum erweitert, die Rede-, Gewissens- und Pressefreiheit statuiert, der Grosse Rat auf 200 Mitglieder vergrössert, mit mehr Macht ausgestattet und die konfessionelle Parität wieder aufgehoben. In den katholisch-konservativen Gebieten kamen neue Spannungen auf. Am 13. Januar 1841 fasste der Grosse Rat einen folgenschweren Beschluss: Er hob die Klöster als vermeintliche politische Unruhequellen auf. Dies war das Vorspiel zu den Freischarenzügen und zum Sonderbundskrieg, dem letzten eidgenössischen Bürgerkrieg, aus dem 1848 die «Moderne Schweiz» hervorging.
Nachhaltige Zäsuren
Mit mehreren Verfassungsänderungen passte der Kanton sein Staatsgerüst dem neuen Bundesstaat an. Er erweiterte die Volksrechte durch die Verfassungsinitiative, das obligatorische Gesetzesreferendum und das Recht zur Abberufung des Grossen Rates. Diese neuen Mittel blieben nicht lang ungenutzt. Das Volk verwarf ein Judengesetz und berief den Grossen Rat ab. Dessen Amtsdauer wurde nachher auf vier Jahre verkürzt, die Mitgliederzahl auf die Einwohnerzahl der Kreise abgestützt, das Stimmrechtsalter auf 20 Jahre festgesetzt und der Ausschluss der Geistlichen von öffentlichen Ämtern wieder aufgehoben.
Die Ausweitung der Staatsaufgaben prägten die Verfassungsrevision von 1885. Die nachhaltigsten staatspolitischen Korrekturen der letzten hundert Jahre waren die Einführung des Proporzwahlsystems 1921 und des Frauenstimm- und Wahlrechts 1971. Die Proporzwahlen veränderten die Zusammensetzung des Grossen Rates tiefgreifend. Die Hälfte der Sitze wurde neu vergeben. Die FDP bekam nur noch 43 statt 140 Mandate, die CVP 47 statt 55. Dafür stieg die Sitzzahl der SP von 18 auf 51 und der neuen BGB/SVP von 0 auf 46. Mit dem Frauenstimmrecht verdoppelte sich die Zahl der Stimmberechtigten, dennoch gingen bei den Grossratswahlen 1973 erst 13 der 200 Sitze an Frauen.
Divers und dispers
Die Jubiläumssitzung des Grossen Rates zur 150-Jahr-Feier des Kantons am 25. April 1953 war ein Input. Man liess ein aufführungsreifes Festspiel «in vaterländischem Gehalt» fallen, weil es den Zeitgeist nicht mehr traf, und stellte mit Freude fest, der Aargau sei zur Einheit gereift. Aber einen Zentralisierungstrend gab es noch nicht. Im Gegenteil wurden kantonale Institutionen, Schulen und Spitäler dezentralisiert – die Regionen wehrten sich, dass sie nicht zu kurz kamen. Die Ausgewogenheit verschaffte dem Aargau im Aufschwung der Nachkriegsjahre politische Stabilität. Allerdings war der Grosse Rat zunehmend mit der Bewältigung der wachsenden Aufgabenund Gesetzesflut beschäftigt.
Neben den «Regierungsparteien» FDP, SP, CVP, SVP und den seit längerem im Grossen Rat vertretenen «Kleinen», Landesring und EVP, wurden neue soziale und politische Bewegungen aktiv: 1965 die Freien Stimmberechtigten, 1973 das Team 67, die Republikanische Bewegung und die Nationale Aktion, 1985 die Grünen, 1989 die Autopartei, die Eidgenössisch-demokratische Union (EDU) und die Junge Liste, 2009 die Grünliberalen und die Bürgerlich-demokratische Partei (BDP). Aber alle, mit Ausnahme der Grünen, der EDU und GLP, verschwanden wieder. Diesen Herbst treten sieben neue Gruppierungen an – von der lösungsorientierten Volksbewegung bis zur NB/Neues Bewusstsein. Die politische Zersplitterung drückt die wachsende gesellschaftliche Segmentierung aus.
Epoche der Reformen
Eigentlich wollte die Totalrevision der Kantonsverfassung 1980 dem Wandel der Zeit Rechnung tragen. Doch für Reformen der Staatsleitung und Verwaltungsführung wurde noch kein Konsens gefunden und erst später mit dem neuen Grossratswahlgesetz, Geschäftsverkehrsgesetz und Gesetz über die politischen Rechte umgesetzt. Sie bezweckten die Verschlankung demokratischer Abläufe und die Straffung des Parlamentsbetriebs. Das obligatorische Gesetzesreferendum wurde in ein fakultatives umgewandelt. Der Grosse Rat kann aber dank Behördenreferendum von sich aus Gesetze der Volksabstimmung unterstellen. Mit dem Projekt Wirkungsorientierte Verwaltungsführung (WOV) wurden sodann die Aufgaben- und Finanzbereiche neu gebündelt. Auch das Gesetz über den Geschäftsverkehr zwischen Grossem Rat, Regierungsrat und Justizleitung zielte auf eine Entlastung des befrachteten Ratsbetriebs ab. Überdies wurde das Parlament durch ein vollamtliches Ratssekretariat verstärkt.
Mit dem Grossratswahlgesetz wurde das Listenstimmenverfahren durch das Kandidatenstimmensystem ersetzt, zur Sitzverteilung der doppelte Pukelsheimer eingeführt und Listenverbindungen fallengelassen. Demzufolge wird jede für eine kandidierende Person abgegebene Stimme nun deren Partei zugerechnet. Aus den Gesamtstimmenzahlen werden vorab auf kantonaler Ebene die Sitze der Parteien ermittelt und danach auf die Bezirke verteilt. Von dem Modus profitieren kleinere Gruppierungen. Hingegen hat das von 20 auf 18 Jahre gesenkte Stimmrechtsalter die politischen Kräfteverhältnisse kaum verschoben. Nachhaltiger war dagegen die Verkleinerung des Grossen Rates von 200 auf 140 Mitglieder. Gleichzeitig wurde das Amtsjahr vom 1. April bis 31. März auf das Kalenderjahr vom 1. Januar bis 31. Dezember ausgerichtet.
Nicht mehr um Gotteslohn
Seit der Kantonsgründung stand die Entschädigung der Grossratsmitglieder wiederholt zur Diskussion. Der stapfersche Verfassungsentwurf von 1803 sah ein Taggeld von sechs Schweizerfranken vor. Man betrachtete jedoch das Grossratsmandat im Gegensatz zu anderen öffentlichen Tätigkeiten als Ehrenamt. Sowieso waren nur vermögende Bürger stimm- und wahlfähig. Die Grossratsentschädigung wurde in der Verfassung festgeschrieben, aber erst 1841 wirklich eingeführt. Sie lag in der Hand des Volkes. Dieses stimmte innert hundert Jahren fünfmal über eine Erhöhung ab – und lehnte sie viermal ab.
Jahrzehntelang betrug die Vergütung 20 Franken pro Halbtagssitzung plus Reisevergütung. Der aargauische Grosse Rat galt als das am schlechtesten honorierte Kantonsparlament. Weil in der neuen Verfassung von 1980 die Abgeltung nicht mehr vorkam, musste eine neue Rechtsgrundlage her. Der Regierungsrat liess sich aber damit Zeit. Darum griff das Parlament zur Selbsthilfe und erhöhte das Taggeld während der Budgetberatung 1985 handstreichartig von 20 auf 80 Franken pro Sitzung. Der heutige Ansatz beträgt 150 Franken pro Halbtags- beziehungsweise 300 Franken pro Ganztagessitzung. Dazu kommt eine Grundentschädigung von jährlich 5000 Franken, die das Plenum von sich aus auf 4000 Franken reduzierte. Es sind Bestrebungen für eine neue Korrektur nach oben im Gang.
Milizcharakter bewahrt
Die finanzielle Abgeltung ist gemessen am Zeitaufwand für das Grossratsmandat nicht übertrieben. Sie war aber nie ein ausschlaggebendes Kriterium. Bei den Wahlen mangelte es kaum je an Kandidierenden – auch dieses Mal haben die Stimmberechtigten eine breite Auswahl. Die parteipolitische und personelle Zusammensetzung des Plenums haben sich jedoch im Laufe der Zeit stark verändert – am augenfälligsten durch den Einzug der Frauen vor 50 Jahren. Der Rat ist egalitärer, gleichförmiger geworden; er wird nicht mehr wie zu früheren Zeiten durch Honoratiorenpolitiker und Patron-Büezer-Sozialprofile geprägt.
Am Milizcharakter des Kantonsparlaments hat sich grundsätzlich nichts geändert, aber an der politischen Tätigkeit sehr wohl. Die meisten Ratsmitglieder sind neben dem Grossratsmandat privatberuflich tätig. Die Zahl derjenigen, die sich Unternehmer nennen, sinkt nicht mehr dank neuen Möglichkeiten von selbstständigen Betätigungen. Eine stattliche Gruppe bekleidet gleichzeitig noch ein kommunales Behördenamt, weil direkte Verbindungen zwischen Gemeinden und Kanton hilfreich sind. Hingegen ist die Doppelfunktion Grossrat/Bundesparlament, im Gegensatz zu früher, nicht mehr zu bewältigen.
Hans-Peter Widmer war Redaktor und Aargau-Ressortchef des Aargauer Tagblatts und der Aargauer Zeitung sowie FDP Grossrat und Vizeammann in Hausen.