Marino Giulio verlässt den «Himmel auf Erden»
27.09.2024 HägglingenMarino Giulio wird am 14. September 65. Ende November beendet er nach beinahe 44 Jahren seine Laufbahn als Wirt
44 Jahre sind genug. Marino Giulio hängt seine Kochschürze Ende November endgültig an den Nagel. Damit geht eine Ära zu Ende, wie sie heute kaum mehr ...
Marino Giulio wird am 14. September 65. Ende November beendet er nach beinahe 44 Jahren seine Laufbahn als Wirt
44 Jahre sind genug. Marino Giulio hängt seine Kochschürze Ende November endgültig an den Nagel. Damit geht eine Ära zu Ende, wie sie heute kaum mehr vorstellbar ist. Zu seinem AHV-Eintritt lud der ewige Beizer am 14. September Krethi und Plethi zu Gratis-Pizza ins «Kreuz» in Hägglingen ein, wo er die letzten sieben Jahre für Furore gesorgt und seinen Legendenstatus als Wirt endgültig zementiert hat.
Kreuzberger Nächte sind lang»: Als diese Schnulze der Gebrüder Blattschuss aus Berlin auch hierzulande aus allen Musikboxen durch die Beizen hallte, stand Marino Giulio mit zarten 19 Lenzen bereits im «Central» in Niederrohrdorf am Herd. Das «Central» war damals eines der angesagtesten Häuser der Region. «Wir waren jeden Mittag und Abend ausgebucht», erinnert sich Giulio, den man weit herum nur als Marino kennt.
Eine hohe Stirn hatte er schon damals. Allerdings vermochte der Schlaks, der er damals war, den «Karton» mit seinen dunklen Locken zu bedecken. Zur hohen Stirn sagt er in der ihm eigenen Sprechweise: «Ein schönes Gesicht braucht Platz.» Ja, der «kleine Italiener» mit der schwarzen «Schnuderbremse» im Gesicht war schon damals eine Attraktion. Und mit seiner «Italianità» kam er auch beim weiblichen Geschlecht gut an. Ganz abgesehen davon, dass er sein Handwerk in der Küche meisterhaft beherrschte. Es war schon damals seine besondere Art auf Menschen zuzugehen, ganz ohne Hemmungen, offen und direkt.
Kochberuf als Berufung
Das kam bei den Leuten an. Marino Giulio war der Beruf in die Wiege gelegt. Jedenfalls erinnert er sich noch sehr genau daran, dass es für ihn schon sehr früh nur einen Berufswunsch gab: Koch. «In unserer Familie wurde man entweder Coiffeur oder man ging auf den Bau arbeiten», sagt er. «Ich wusste schon in der 2. Klasse, dass ich einmal Koch werden würde. Zu Hause hatten wir einen grossen Pflanzblätz, dazu Chüngel, Hühner, Sauen und Enten. Wir waren praktisch Selbstversorger.» Er habe mit seiner Mutter, der er schon früh in der Küche half, einen «Deal» gehabt. Sie sei aufs Feld gegangen und habe sich um die «Viecher» gekümmert, er habe dafür zu Hause schon mit sieben oder acht Jahren für die Familie gekocht.
Nach der Schulzeit fand Marino Giulio im «Huserhof» in Unterlunkhofen eine Lehrstelle als Koch. Er war noch keine 15 Jahre alt. Er schwärmt noch heute von seinem Lehrmeister. Der «Huserhof» war ein Kleinbetrieb. «Ich durfte schnell mitkochen. Schon bald musste ich alles selbst machen, Salat rüsten, Saucen zubereiten, Patisserie, Fleisch und Fisch.» Die Lehrabschlussprüfung bestand er mit Bravour.
Marino Giulio war noch keine 18 Lenze jung, als er mit dem Töffli nach Glattbrugg fuhr, um im damals weit herum bekannten «Hirschen» als Alleinkoch mit zwei Küchenhilfen anzuheuern. Er erinnert sich genau. Der Lohn betrug 1650 Franken netto. Dazu Kost und Logis. Nach sieben Monaten folgte er dem Ruf aus dem «Central» in Niederrohrdorf, das von der Familie Staubli geführt wurde. Marino Giulio weiss alle Daten seiner Stationen auswendig. Am 1. November 1977 wars, als der Jungspund in Niederrohrdorf anfing. Das «Central» war damals eine kulinarische Top-Adresse. Heute vergleichbar vielleicht mit der «Linde» in Fislisbach.
Die Lehr- und Wanderjahre
Allerdings hielt es Marino Giulio auch hier nicht so lange. Nach einem Jahr und einem Monat verschlug es den lernbegierigen jungen Mann aus dem Aargau nach Biel ins «Rosius 18» (heute «Café Bielstube»), in eines der ältesten Gebäude der bilingualen Stadt. Französisch oder Deutsch hin oder her: Marino Giulio, der mit seiner damaligen Freundin und späteren Frau Ruth nach Biel gezogen war, hielt es nur gerade drei Monate an der Rosius-Strasse 18. «Es hat nicht gepasst. Ich habe selbst gekündigt. Darauf war ich das einzige Mal in meinem Leben für einige Tage arbeitslos. 30 Tage, um genau zu sein.»
Ein Abstecher ins heute renommierte «Chartreuse» dauerte nur gerade einen Vormittag lang. «Nach dem Mittagessen habe ich die Schürze ausgezogen, meine Messer eingepackt und bin gegangen.» Der Grund: Das Lokal sei damals «unter aller Sau» gewesen. Da sei das Bahnhofbuffet in Biel schon eine andere Nummer gewesen. Im Mai 1979 habe er dort mit 19 Jahren als Saucier angefangen. Schon drei Monate später wurde er zum Souschef befördert. In dieser Zeit absolvierte der junge Mann auch noch die Wirtefachschule, an die er sich mit Schrecken zurückerinnert.
«Ich musste mit Knödeln Saucen machen. Eine reine Schikane. Als ausgebildeter und bereits erfahrener Koch musste ich Dinge machen, die ich längst im Schlaf konnte. Da gings einfach nur ums Geld für den Wirteverband.»
Auch mit dem «Lebensmittler» habe er sich dort angelegt. Der wollte ein Thermometer im Kühlraum. «Das ging mir gegen den Strich. Ich habe dem Beamten gesagt: Ihr könnt mich büssen, wie ihr wollt, aber der Giulio hat kein Thermometer im Kühlraum, allein schon aus hygienischen Gründen.» So kams auch. Die Bussen sind ausgeblieben.
Südländisches Temperament
Ja, wenn Marino Giulio etwas nicht passt, wenn es gegen jede Logik geht, dann kann er schon mal den «Stieregrind» aufsetzen. Und er kann wortgewaltig gegen die Staatsgewalt und ihre Leerläufe wettern.
Selbst in der Bundeshauptstadt hat er bei gewissen «Sesselfurzern» bleibenden Eindruck hinterlassen. Unkorrekte Rechnungen für die Mehrwertsteuer oder noch schlimmer: unplausible Antworten aus bernischen Amtsstuben können den sonst umgänglichen Aargauer zuoberst auf die Palme bringen. Dann bricht sein südländisches Temperament durch und er wird zum geradezu melodramatischen Mundartdichter für nicht druckreife Verse.
Er war gerade mal 22 Jahre alt, als Marino Giulio am 3. April 1981 das «Central» in Oberlunkhofen übernahm. Mit seiner Frau Ruth und 34 000 Franken Schulden auf dem Buckel wagte er das Abenteuer, welches beinahe 44 Jahre lang anhalten sollte. O-Ton Marino Giulio: «Lieber früh anfangen. Wenn es mir den Schlammdeckel gelupft hätte, wäre noch Zeit gewesen, ein zweites Mal anzufangen.»
Das mit dem «Schlammdeckel»
Der «Schlammdeckel» ging nicht hoch. Er konnte sich einer andauernd guten Gästefrequenz und guten Umsätzen erfreuen. Das Geld, welches er bei Onkel, Vater und anderen Familienmitgliedern gepumpt hatte, war nach acht Jahren zurückbezahlt. Aber da war auch das Abenteuer mit der ersten Beiz zu Ende.
Das «Central» fiel dem Baggerzahn zum Opfer. Marino Giulio musste zu neuen Ufern aufbrechen. Und das lag an der Reuss in Mellingen. Am 3. Januar 1988 luden Marino und Ruth Giulio zur «Atrinkete» in die «Linde». Hier hat er während 28 Jahren tiefe Spuren hinterlassen, die heute noch nachwirken. In jener Zeit, als Mellingen eine gastronomische Hochburg mit 16 Beizen war, als man noch reihum am Wochenende nach Mellingen in den Ausgang ging, gab er schon bald einmal mit den Ton an und erlangte, wie die ebenfalls unvergessene Agnes Heuer, im Reuss-Städtchen Legendenstatus. Wenn heute an den ausgedünnten Stammtischen von Mellingen von Marino Giulio die Rede ist – und das ist häufig der Fall –, steigt er in Sphären auf, die irgendwo zwischen Dichtung und Wahrheit ein Mass der Verklärung erreichen, wie das sonst nur in Märchen und Mythen vorkommt.
Er hat niemanden kalt gelassen
Marino Giulio wurde im Reuss-Städtchen geliebt oder gehasst. Gleichgültig ist er auf jeden Fall niemandem geblieben, der ihn gekannt hat. Geschwärmt wird von den legendären Nächten, bei dem der Dorfpolizist vornehm zur Seite geschaut hat, wenn er hätte Polizeistunde bieten sollen.
Damals kostete das Überhocken nach Mitternacht noch fünf Franken pro Person. «Nein», sagt Marino Giulio mit der Miene eines Unschuldslammes, «eine Busse habe ich nie gekriegt. Da ist immer alles mit korrekten Dingen zugegangen.» Nur einmal lag ein Brief vom Polizeiposten im Briefkasten. Darin stand, nur ein dringender Funkspruch hätte den Dorfpolizisten davon abgehalten, reinzukommen. Es hätten sich zu später Stunde noch zahlreiche Gäste im Lokal aufgehalten und die hätten gegenseitig auf ihr Wohl angestossen, hiess es in dem Schreiben. Tatsächlich, so erzählt Giulio, hätten die letzten Gäste an jenem Abend die «Linde» erst um vier Uhr in der Früh verlassen. Marino Giulio, nicht verlegen, nahm sich die Mühe und schrieb zurück: «Das zeigt, dass alle Gäste zufrieden waren und ich den Laden im Griff habe.»
An den Stammtischen, erzählen sie noch heute viele solcher Geschichten über die «Linde» in jener Zeit, als Marino Giulio Kochlöffel und Zepter führte. Er ist längst zur lebenden Legende geworden. Geschichten etwa, wie er auch mal einem Gemeindeschreiber oder dem Gemeindepräsidenten seine Meinung gegeigt habe, wenn wieder mal eine Verfügung wider den gesunden Menschenverstand ins Haus geflattert sei.
Familie war immer wichtig
Auch wenn die Ehe den Strapazen ewig langer Arbeitstage letztlich nicht standgehalten hat, die Familie war ihm trotzdem immer wichtig. Auch die Scheidung von Ruth im Jahr 1999 konnte daran nichts ändern. Marino nennt es die «Wirtekrankheit». Wenn er im «Seich» ist, stehen Ruth und die beiden Töchter Natalia und Marina mitsamt Anhang auf der Matte, um mitanzupacken. Beim jährlichen «Chüngelessen» etwa oder bei der ebenso legendären «Metzgete» im Herbst.
Marino Giulio hätte sich gut vorstellen können, bis zu seiner Pensionierung in der «Linde» weiterzumachen. Doch dann verkauften Hardi und Margrith Stehli altershalber das Haus mit der Metzgerei und der «Linde». Nicht lange, da gerieten der neue Hausbesitzer und der Erfolgsbeizer über Kreuz. Für einen wie Giulio, der sich nichts diktieren und sich schon gar nicht drangsalieren lässt, gab es nur einen Ausweg: Kündigen. Am 12. April 2012 – das Datum hat sich in seinem Gehirn festgebrannt – war «Uustrinkete» in der «Linde». Das Bier floss in Strömen. Die Tränen vieler treuen Gäste auch. Vorbei, aber nicht vergessen. Marino Giulio zog weiter. Zuerst nach Villnachern, wo er aber nicht glücklich wurde. Das änderte sich, als er das «Kreuz» in Hägglingen, welches im Besitz einer Erbengemeinschaft ist, übernehmen konnte.
Hägglingen und Marino Giulio, das passt wie der Deckel auf die Pfanne. Hier fand er sein neues Glück. Die «Häggliger» mit ihren vielen Vereinen haben ihn förmlich in ihre Herzen geschlossen. «Hier im ‹Kreuz› zu wirten, ist wie der Himmel auf Erden», schwärmt er und lobt die «Häggliger» mit den Worten: «Es wäre mir egal, wenn ich 30 Jahre jünger wäre und die ‹Häggliger› weiter bewirten könnte, ohne dabei auch nur einem von ihnen in den A... zu kriechen.»
Giulio hilft seinen Nachfolgern
Ende November ist endgültig Schluss. Im Januar starten Marino Giulios Nachfolger Madu und Gigi, die zuvor 21 Jahre im «Hirschli» in Baden gekocht haben, neu. Ein Paar aus Sri Lanka. Marino Giulio wird die beiden so lange begleiten, bis auch sie den «Himmel auf Erden» gefunden haben werden. Vor allem beim «Chüngelessen» und bei der Metzgete.
Beat Gomes