Zur «Eiszeit»-Vernissage bringt er «Tschätt» mit
27.09.2024 Mellingen, Region ReusstalIm Forum der Stadtscheune findet morgen die Vernissage zur Ausstellung «Eiszeit» des Künstlers Freddy Air Röthlisberger statt
Zehn Jahre lang arbeitete der Künstler Freddy Röthlisberger in Mellingen. Seither liegt ihm das Städtli am Herzen. Nun zeigt er ...
Im Forum der Stadtscheune findet morgen die Vernissage zur Ausstellung «Eiszeit» des Künstlers Freddy Air Röthlisberger statt
Zehn Jahre lang arbeitete der Künstler Freddy Röthlisberger in Mellingen. Seither liegt ihm das Städtli am Herzen. Nun zeigt er Mammuts und Säbelzahntiger und schenkt der Stadt die Skulptur «Tschätt».
Der Künstler kehrt heim. Ein bisschen zumindest. Freddy Air Röthlisberger, 1937, ist in Kerzers im Kanton Bern geboren. Zehn Jahre lang, von 2001 bis 2012, arbeitete der Holzschnitzer, Zinngiesser, Bronzegiesser und Maler aber in einem Atelier in Mellingen, im Haus Argovia an der Stetterstrasse 25. Dass seine Wahl damals auf Mellingen fiel, sei nach langer Suche ein Zufall gewesen, sagt er: «Das Atelier im dritten Stock an der Stetterstrasse war eine Überraschung und eine Trouvaille.» Hier fand er im Alter von 64 Jahren nach privaten Krisen, gemäss eigener Aussage, zurück in ein Umfeld, «in dem ich fruchtbar arbeiten konnte». Dazu hätten auch glückliche Geschäftsverbindungen beigetragen, so Röthlisberger, was sich in seinem Schaffen widerspiegelte.
Er modellierte und schweisste in diesen Jahren eine 15 Meter lange Narrenbrücke mit 18 Wachsfiguren, ein Teil davon, etwa die «Rasselbande», konnte in Bronze gegossen werden. Sie steht heute, als Geschenk der Albert-und-Ida-Nüssli-Stiftung anlässlich der Feier «10 Jahre Forum Stadtscheune Mellingen», zwischen Iberg und Altersheim. Im Mellinger Atelier entstanden ausserdem die Sequenzen «Winter» (7 Bronzen), «Bronzen nach Themen von Jeremias Gotthelf» (25 Bronzen), «Mingeri Lüt» oder «Heidi» sowie einige Auftragsarbeiten.
Röthlisbergers Gesellschaftskritik
Die Objektgruppe «Mingeri Lüt», die an Figuren aus Texten von Jeremias Gotthelf erinnert, zeigt Röthlisbergers kritischen Blick auf die Gesellschaft. Als «Mingeri Lüt» habe Gotthelf jene bedürftigen Menschen bezeichnet, «die in ihrer Not auf den Goodwill der sogenannt ‹Besseren› angewiesen waren oder die einem Beruf nachgingen, der den Charakter einer Gelegenheitsarbeit hatte». Gotthelf und seine Zeitgenossen hätten damals eine ganze Bevölkerungsschicht abwertend mit diesem Begriff bezeichnet: Zigeuner, Tagediebe, Trunkenbolde, Kriminelle, Tauner (landwirtschaftliche Gelegenheitsarbeiter), Hausierer, Kurpfuscher, Mägde und Knechte, Kleinstbauern, die meist am Hungertuch nagten, auch uneheliche Kinder oder Kunstschaffende. Solch klassenbewusstes Denken, dieser «Dünkel» störte den Künstler. Genau aus diesem Grund würdigte er deren Mut und ihre Kreativität: «All diesen Leuten war der grosse Überlebenskampf gemein, der sie zwang, ständig neue Berufe zu erfinden.» Die zumeist aus der Not geborenen Erwerbsformen seien stets sehr kreativ gewesen. «Das fesselte mich», erklärt Röthlisberger.
Ein Geschenk für das Museum
«In Mellingen habe ich damals schnell Wurzeln gefasst», sagt er. Er engagierte sich in einer kulturellen Vereinigung und war Mitglied im Orchideen-Verein.
Ende 2012 gab der Künstler sein Mellinger Atelier allerdings auf: Er wurde 75 Jahre alt, lebte in Zürich und konnte sich dort eine Modellierstube einrichten. Mehr Zeit wollte er zudem biografischen Aufzeichnungen und seinen Werken widmen. Vor seinem Wegzug aber beschenkte Freddy Röthlisberger das Museum Mellingen mit 50 Objekten, die einen Querschnitt aus seinem gesamten Schaffen darstellen. Walliser Holzmasken aus den Anfängen, abstrakte Holzskulpturen sowie auch Skulpturen in Gelbgusstechnik, die nach längeren Aufenthalten in Kamerun in den 1970er-Jahren entstanden waren, er modellierte in Wachs, goss Zinnfiguren und ab den 1980er-Jahren auch Bronzefiguren.
Einige dieser Schenkungen sind in der Stadtscheune ausgestellt, andere lagern im Depot des Ortsmuseums, darunter beispielsweise die Bilder «Apollo» und «Aphrodite», Acryl auf Holz.
Urzeitliche Tiere in der Stadtscheune
Mitte Juli dieses Jahres kam sein «Rufer» auf die Ibergwiese. In einem spektakulären Transport hatte ihn der Mellinger Werkdienst vom Eichberg in Seengen ins Städtli gebracht (der «Reussbote» berichtete). Der «Rufer», dessen Zeit auf der Ibergewiese begrenzt sein wird, sollte die Ausstellung «Eiszeit» ankünden, die ab morgen bis Ende März im Museum Mellingen in der Stadtscheune zu sehen sein wird. «Urzeitliche Tiere, die noch nie gezeigt worden waren», sagt Györgyi Schaeffer, Stadtpräsidentin in Mellingen.
Gemeinsam mit Madlen Zimmermann vom Fotoarchiv Mellingen ist sie die treibende Kraft hinter dieser Ausstellung, tatkräftige Unterstützung erhalten sie auch von Viktor Zimmermann. Schaeffer erhofft sich viel: «Wir machen diese Ausstellung für Mellingen und betrachten sie als Projekt zur Standortförderung.» Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Region sollen die Skulpturen sehen.
Die Ausstellung mit Mammut und Säbelzahntiger wird im ersten Stock, im Forum der Stadtscheune gezeigt. Während der sechsmonatigen Ausstellungsphase ist eine anderweitige Nutzung in diesem Raum nur in beschränktem Ausmass möglich. Stadtpräsidentin Schaeffer ist sich bewusst, dass der Raum in diesem Haus begehrt ist. Sie weist aber auch darauf hin, dass die Stadtscheune in den 1990er-Jahren zu einem Kulturzentrum umgebaut wurde, welches seither das Ortsmuseum mit dem Raum für Kunst beherbergt und die Bibliothek.
«Tschätt» – im Flirt mit Mellingen
Wenn morgen Samstag die Ausstellung mit einer Vernissage eröffnet wird, wird erstmals auch «Tschätt» in Mellingen zu sehen sein. Drei Jugendliche und ein Fahrrad – «Tschätt» ist eine Skulptur aus der Serie «Kinderreigen», in welcher der Künstler der Frage des Kindseins nachgeht. Die Serie «Kinderreigen» stellt Spiel-Szenen und Alltags-Begegnungen dar. «Tschätt» zeigt zwei junge Menschen im Gespräch. Ihre Gesichter nahe beieinander, zugewandt und zugeneigt, hinter vorgehaltener Hand ein geheimnisvolles Flüstern – uninteressant für den Dritten, den Jüngeren, der auf dem Gepäckträger des Fahrrades sitzt. Er dreht sich ab, im Versuch, nicht zu erröten. «Tschätt», sowie auch die Figuren «Handy» und «Ikara» sind ein Geschenk – ein grosses – von Freddy Air Röthlisberger an Mellingen, wo er während seiner Atelierjahre eine Heimat fand.
Heidi Hess
Plastische Intensität – ein Denkanstoss
Der Kunsthistoriker Rudolf Velhagen, Chefkurator Sammlung und Ausstellungen beim Kanton Aargau, äussert sich zum Künstler: «Freddy Air Röthlisberger erachte ich als herausragenden Bronzebildner, dessen Werke durch eine beeindruckende handwerkliche Präzision und künstlerische Tiefe bestechen. Mit einer feinen Balance zwischen Abstraktion und Realismus schafft Röthlisberger Kunstwerke, die nicht nur ästhetisch ansprechend sind, sondern in ihrer plastischen Intensität immer auch zum Nachdenken anregen, seien es die Gotthelf-Figuren oder die Serie ‹mingeri Lüt›. Seine Werke zeigen somit nicht nur die meisterhafte Beherrschung des Materials, sondern erzählen ihre ganz eigene, tiefgründige Geschichte.» (red.)




