Die einen liebten und andere verwünschten ihn
25.04.2025 MellingenBeat Gomes hat in Mellingen polarisiert wie kaum ein anderer. Im grossen Porträt schaut er zurück und blickt auch in die Zukunft
Er wird am 1. Juli ins Flugzeug steigen und nach Brasilien fliegen. Zuvor aber erzählt er im Städtli, warum er besonders lange in Mellingen ...
Beat Gomes hat in Mellingen polarisiert wie kaum ein anderer. Im grossen Porträt schaut er zurück und blickt auch in die Zukunft
Er wird am 1. Juli ins Flugzeug steigen und nach Brasilien fliegen. Zuvor aber erzählt er im Städtli, warum er besonders lange in Mellingen lebte. Und auch, was ihn all die Jahre zuvor bewegte.
So lange, wie in Mellingen lebte ich nirgends», sagt er gleich zu Beginn des Gesprächs. Im Reuss-Städtli war Beat Gomes über zehn Jahre lang daheim, an der Hauptgasse in einer kleinen Dachwohnung. Wir sitzen an einem Tisch in einer Mellinger Beiz und der heute 72-Jährige erzählt aus einem bewegten Leben. 2014 kam Gomes nach Mellingen. Er hatte sich auf eine offene Stelle als Redaktor beim «Reussbote» beworben. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2018 verfasste er unzählige Schlagzeilen, schrieb sich als Journalist im Reusstal ins Gedächtnis seiner Leserinnen und Leser. Frühmorgens habe er mit dem Vogelgezwitscher in der Redaktion seine Artikel formuliert, erzählt er. Und danach neue Themen gesucht. Er sei gegen 9 Uhr, zum Znüni, an den Stammtischen in der Region aufgekreuzt. Was die Menschen bewegte und dort besprochen wurde, war oft eine Geschichte wert. Gomes fragte nach, klärte ab und stiess nicht immer auf Anklang. Resonanz aber war ihm gewiss. Er polarisierte. Das weiss er. Er selbst bezeichnet sich als «Mann mit Ecken und Kanten» – das dürfe man, meint er, gerne auch so schreiben.
Er sammelte alle Zündhölzer
Angstfrei, unerschrocken? – Die Attribute passen und dürften in seiner eigenen Geschichte gründen. Der Sohn eines gewalttätigen Vaters kam als Siebenjähriger zu einem Bauern im Zürcher Oberland. «Ich bin ein Verdingkind», sagt Beat Gomes. – Eines, ohne Glück bei der Zuteilung des Bauernhofes. Denn wie schon sein Vater, war auch der Landwirt gewalttätig, quälte ihn. Als kleiner Bub habe er auf diesem Hof sämtliche Zündhölzer gesammelt, die ihm in die Finger gekommen seien. «Ich wollte die Scheune niederbrennen und mich befreien», erzählt Gomes. Die Zündhölzer wurden entdeckt, die Vormundschaftsbehörde eingeschaltet und der inzwischen Zehnjährige kam in den frühen 1960er-Jahren erstmals in ein Heim, in eine Jugendanstalt.
Auch dort seien Gewalt und Missbrauch an der Tagesordnung gewesen. «Ich gehöre zu den wenigen der damaligen 5. Klasse, die heute noch leben», sagt Gomes. Immer wieder sei er nach Hause, zu seiner Mutter gelaufen. Sie aber habe ihn jedes Mal zurückgeschickt, ins Heim, nannte ihn «gewalttätig, wie schon der Vater».
Beat Gomes kam schliesslich in ein Jugendheim nach Albisbrunn, ausschliesslich für Knaben – schwer erziehbare, auffälliges Verhalten. Ein Attest habe ihn als «gemeingefährlich, sittlich verwahrlost und ungeeignet für den Besuch einer öffentlichen Schule» eingestuft, erzählt er. Ein Intelligenztest hingegen stufte den Jungen als überdurchschnittlich klug ein. Immerhin konnte er in diesem Heim die Realklasse besuchen. Er habe hier aber vor allem eine Lektion gelernt: «Der Stärkere gewinnt.»
«Und dann lief ich weg ...»
Auch deshalb blieb die Flucht ein Ausweg: «Ich wollte weg.» Mit drei Kollegen klaute er ein Auto. Sie seien über Vesoul nach Paris gefahren, dort im Parc de Boulogne herumgelungert. Schliesslich griff die Polizei die Ausreisser auf. Es folgten Untersuchungshaft und Jugendgericht. Gomes erhielt aber auch die Chance, einen Beruf zu lernen. «Feinmechaniker, eidgenössisch diplomiert», sagt Gomes. Sein Leben blieb nach abgeschlossener Lehre unstet. «Ich beging einen Postüberfall, bewaffnet», erzählt er. Und er landete im Gefängnis. Dort erhielt Gomes jedoch die Chance, die Matura nachzuholen, was ihm später ein Studium ermöglichte. Diese Geschichte hält Gomes, der damals noch Beat Alder hiess, in seinem 1978 erschienenen Buch «Und dann lief ich weg ... Aufzeichnungen eines Strafentlassenen» fest. Heute sei es nur noch antiquarisch erhältlich. Damals habe es sich aber zum Bestseller entwickelt, sagt er, auch zum Standardwerk für Lehrpersonen und Heilpädagogen.
Mit Schawinski zum Journalismus
«Sehr geehrter Herr Schawinski, Ich habe gelesen, dass Sie eine Zeitung machen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das ohne mich machen ...», schrieb Beat Alder im Jahr 1977 ganz unbescheiden an Roger Schawinski, neuer Chefredaktor der Migros-Zeitung «Die Tat». Er lacht, als er die Episode erzählt, die ihm letztlich einen Job bei Schawinski verschaffte, der «Die Tat» als Boulevard-Zeitung neu lancieren sollte. Alder verfasste Kürzestnachrichten und machte sich bald einen Namen als Reporter. Er unterstützte gemäss eigener Aussage die Recherchen zum Chiasso-Skandal rund um die damalige Schweizerische Kreditanstalt. Diesen Skandal hatte «Die Tat» im April 1977 aufgedeckt. Dennoch ging die Migros-Zeitung ein – sie war ihrer Besitzerin zu aufmüpfig, zu wirtschaftskritisch.
Beat Alders nächste Station wurde der «Blick». «Sie schickten mich zu den schlimmsten Verbrechen, zeitweise watete ich sozusagen im Blut.» Zwei Jahre lang arbeitete er beim «Blick», verkaufte dann alles und zog nach New York. «Aus freien Stücken», wie er sagt. Er sei von Agentur zu Agentur gelaufen und musste erkennen: Niemand hatte auf ihn gewartet.
Der Journalist lernte Portugiesisch
Zurück in der Schweiz schreibt er «aus einem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden heraus» die Reportage «Die Begutachtung der Familie F.», für welche er unter anderem ein Lob vom damaligen Bundesrat Kurt Furgler erhalten habe, erzählt Beat Gomes.
1986 heiratete er in Schaffhausen, wurde Vater von zwei Söhnen. Er leitete dort die Gratiszeitung «Schaffhauser Bock». Später folgten Basler Jahre: Alder sanierte den «Basler Doppelstab», gründete den «Basler Beppi», kam für einige Jahre zurück zum «Blick» und gründete schliesslich eine Online-Zeitung.
Privat folgte nach über 20 Ehejahren die Scheidung. «2007 lernte ich portugiesisch, es folgte meine brasilianische Phase», erzählt Gomes. Er heiratete ein zweites Mal, eine Brasilianerin, und nahm ihren Namen an. «Weil sie nicht Alder heissen wollte», wie er erklärt.
Gomes Absicht: «Politische Wende»
2014 stellte Benedikt Nüssli, Verleger und damaliger Chefredaktor, Gomes dann beim «Reussbote» als Redaktor ein. Fünf Jahre blieben ihm bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2018. Er deckte auf, eckte an und schrieb, wie erwähnt, viele Schlagzeilen – die Verfasserin des Textes hat nie mit ihm auf der Redaktion gearbeitet. Sie erlebte ihn danach, als Sportreporter für den «Reussbote» und vor allem als Gemeinderat (heute Stadtrat), in den er 2017 gewählt wurde und dem er seit 2018 angehört. Gomes wollte «die politische Wende in Mellingen herbeiführen». Einzig, weil Bruno Gretener als Gemeindeammann damals vom Verleger verlangt hatte, ihn von der politischen Berichterstattung im Städtli abzuziehen, wie er selber sagt. Er hatte nämlich andere Pläne.
Zunächst aber sorgte er auch im Gemeinderat für Schlagzeilen. Für eine «feuchtfröhliche Fasnachtsrede» gleich zu Beginn seiner Amtszeit entschuldigte er sich. Im August 2018 wurden Beat Gomes dann aber nach Differenzen im Gemeinderat seine Ressorts durch den Gemeinderat entzogen. – «Man warf mir vor, der ‹Reussbote›- Flüsterer zu sein», erklärt er. Es folgte eine Strafuntersuchung wegen «mutmasslicher Verletzung des Amtsgeheimnisses», die ihm nicht nachgewiesen werden konnte. Das Verfahren wurde schliesslich eingestellt.
Frau und Hund warten in Brasilien
Gomes sagt zu seinem Leistungsausweis im Stadtrat: «Nach Jahren der Beschaulichkeit habe ich in Mellingen einen politischen Kulturwandel angestossen. Transparenz und Offenheit ist heute Programm.» Genau mit diesem Anspruch sei er 2018 angetreten. Zwar sei vom damaligen Gemeinderat alles versucht worden, ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden. «Das ist grandios gescheitert. Beinahe ein Jahr lang politisierte ich mit abgesägten Hosen und einem marginalisierten Portfolio, bis die Staatsanwaltschaft die Klage gegen mich wegen Amtsgeheimnisverletzung abgewiesen und eingestellt hatte.» Zu seinen Leistungen im Gemeinderat gehören in seiner Funktion als EW-Präsident die Schaffung eines Energieleitbildes, als Präsident der Natur- und Umweltschutzkommission die Schaffung eines Natur- und Umweltschutzleitbildes. Er plante die Sanierung des Hallenbades entgegen der ursprünglichen Mehrheitsmeinung, wirkte bei der Reorganisation der Spitex Heitersberg mit sowie auch bei der Reorganisation der Jugend- und Familienberatung und in verschiedenen Kommissionen von «Regio Baden», im Vorstand der Museumskommission. «Ich engagierte mich», fügt er an, «im Entschädigungsprozess gegen Theres Bächer-Hirt, den wir vor Bundesgericht gewonnen haben.»
«Jetzt hole ich nach», sagt er schliesslich, «was ich schon nach der Pensionierung tun wollte. Nachdem ich im Mai meine vierte Operation wegen Krebs hinter mich gebracht haben werde.» Er wird am 1. Juli früh aufstehen, zum Flughafen Kloten fahren, in ein Flugzeug steigen, den Atlantik überqueren und in Brasilien landen. Einen Rückflug hat er nicht gebucht. In einer Stadt auf dem lateinamerikanischen Kontinent warten seine Frau, ein Häuschen und ein Hund – und viel Familie. Gomes freut sich darauf.
Heidi Hess