Mein Vater ist 94 Jahre alt. Noch vor wenigen Wochen lebte er selbstbestimmt in seiner altersgerechten 2,5-Zimmer-Wohnung, mitten im Zentrum seiner Gemeinde, in welcher er seit immerhin 63 Jahren wohnhaft war. Er kochte, erledigte seine Finanzen selbst und führte ein unabhängiges Leben, ...
Mein Vater ist 94 Jahre alt. Noch vor wenigen Wochen lebte er selbstbestimmt in seiner altersgerechten 2,5-Zimmer-Wohnung, mitten im Zentrum seiner Gemeinde, in welcher er seit immerhin 63 Jahren wohnhaft war. Er kochte, erledigte seine Finanzen selbst und führte ein unabhängiges Leben, dies auch dank punktueller Unterstützung seiner nächsten Angehörigen. Dann kam der Einbruch: Von einem Tag auf den anderen verliessen ihn die Kräfte, er musste kurzzeitig wiederholt ins Spital, wo er sich u. a. einem operativen Eingriff mit Vollnarkose unterziehen musste. Dort überzeugte man ihn, in ein Alterszentrum einzutreten. Ein Schritt, den er lange vermeiden wollte.
Der Umzug in die Nachbargemeinde bedeutete für ihn einen radikalen Bruch. Die Selbstständigkeit, die ihn sein Leben lang getragen hatte, war plötzlich weg. Er fiel in ein Loch, stellte sein Dasein infrage. Und das, obwohl er ein schönes, grosses Zimmer mit Balkon erhielt und bestens betreut wird. Doch was ihm fehlte, war nicht Fürsorge, sondern Vertrautheit. Er musste seine Wohnung, seine Gemeinde, seine Hausärztin und viele liebgewonnene Dinge aufgeben. Aber auch finanzielle Ängste plagen ihn.
Erst als sein neues Zimmer mit persönlichen Gegenständen eingerichtet war – seinem TV-Sessel samt XXXL-Bildschirm, den Bildern und Fotos – kam der Lebensmut langsam zurück.
Dieses Erlebnis zeigt, worauf es im hohen Alter ankommt: Selbstbestimmung und Identität sind genauso wichtig wie Pflege und Sicherheit. Wenn alte Menschen ihr Umfeld wiedererkennen, wenn sie Entscheidungen mitgestalten dürfen, dann bleibt ihnen ein Stück Würde und Lebensfreude.
Unsere Gesellschaft spricht viel über Pflegeplätze, Betreuung und Kosten. Aber wir sollten ebenso über Selbstbestimmung sprechen. Denn nicht die perfekte Infrastruktur macht das Leben im Alter lebenswert, sondern die Möglichkeit, ein Zuhause zu haben, in dem man sich wiederfindet. Deshalb verliert man nicht sein Leben, wenn man ins Alterszentrum zieht. Man verliert es, wenn man sich selbst nicht mehr wiedererkennt.
Alt werden ist kein Zuckerschlecken. Aber es liegt in unserer Hand, wie wir damit umgehen – als Familie, als Nachbarn, als Gesellschaft. Statt alte Menschen an den Rand zu drängen, sollten wir ihnen zeigen: Ihr gehört dazu. Ihr seid wichtig. Und ihr verdient Respekt.
Wenn wir Glück haben, werden wir selbst irgendwann alt. Und dann hoffen wir, dass auch für uns jemand da ist.