Tomas Masarik (82) fing als Fensterputzer an
06.12.2024 MellingenEr kam 1968 nach dem «Prager Frühling» als Flüchtling in die Schweiz und begann drei Tage später als Fensterputzer zu arbeiten
Als 1968 in Prag die Panzer des Warschauer Paktes durch die Strassen rollten, entschied sich Tomas Masarik zur Flucht in die Schweiz. Mit ...
Er kam 1968 nach dem «Prager Frühling» als Flüchtling in die Schweiz und begann drei Tage später als Fensterputzer zu arbeiten
Als 1968 in Prag die Panzer des Warschauer Paktes durch die Strassen rollten, entschied sich Tomas Masarik zur Flucht in die Schweiz. Mit nichts mehr als dem Diplom als Architekt und einigen Habseligkeiten im Gepäck. Schon drei Tage nach seiner Ankunft hatte er seinen ersten Job — als Fensterputzer. Der Rest ist Geschichte. Tomas Masarik liess sich in Mellingen nieder und wurde ein äusserst erfolgreicher Architekt und Unternehmer.
Wie viel er gebaut hat? Er weiss es nicht. Es sind Hunderte von Wohneinheiten. Vladimir Tomas Masarik sitzt im blauen Pullunder am Schreibtisch seines Büros, das eher einem Kämmerchen gleicht. Die in die Jahre gekommenen Bücherregale sind voll von Büchern, Ordnern, Plastikmäppchen, Kartonboxen und lose gestapelte Architekturplänen. Hinter dem hochlehnigen Ledersessel, in dem der Altmeister der Mellinger Architektur versinkt, prangt gross eine historische Karte der Stadt Prag. Von dort kommt er her. Und dort zieht es ihn immer mal wieder hin. Prag, das ist seine Heimatstadt. Hier wurde er 1942, mitten im Krieg, geboren. In der «Goldenen Stadt» an der Moldau ist er aufgewachsen. Sein Vater Tomáš, so sagt Masarik mit der ihm eigenen Ironie, sei «ein feiner Pinkel» gewesen. So jedenfalls habe ihn seine Mutter, die bäuerlicher Herkunft war, jeweils scherzend genannt.
«Ein feiner Pinkel»
Der Vater stammte aus einer Familie von Baumeistern und Zimmerleuten. Weil der aber als Linkshänder nicht zum Handwerker getaugt habe, ging er studieren und hat ein Volkswirtschaftsstudium abgeschlossen. Nach einem Zusatzstudium der Jurisprudenz sei er Banker geworden. Später war er als Parteifunktionär der liberalen Partei im Ministerium für Verkehr und Telekommunikation die Karriereleiter hochgestiegen. Vater habe stets Anzug und Krawatte getragen. «Es ging uns gut, hauptsächlich weil wir Verwandte auf dem Lande hatten, die uns mit Lebensmitteln unterstützt haben», erinnert sich Masarik. «Wir konnten uns sogar eine Haushaltshilfe zur Unterstützung meiner Mutter leisten.» Mutter Maria war Modezeichnerin mit feinem Humor. «Sie war eher eine Künstlerin, derweil ich die Disziplin vom Vater geerbt habe.» Sie arbeitete in der Entwicklungsabteilung eines Modehauses. Die Mode hätten sie nach den Vorlagen französischer Modemagazine nachgezeichnet und dann genäht. Vom Krieg habe er noch die Geräusche der Bombardierungen in Erinnerung. Die Zusammenhänge der Ereignisse konnte klein Tomas allerdings noch nicht verstehen.
Schwierige Zeiten nach dem Krieg
Nach der Befreiung der böhmischen Hauptstadt von der deutschen Wehrmacht und den SS-Truppen, noch bevor die Rote Armee in Prag einrückte, kehrte das normale Leben nur langsam zurück. Tomas Masarik erzählt: «Es gab nur wenig zu essen. Bis 1953 waren Lebensmittel offiziell nur mit Lebensmittelkarten erhältlich.»
Er erinnert sich, wie sie sich in der Schule jeweils in einer Reihe anstellen mussten. Mit dem eigens mitgebrachten Löffel hätten sie regelmässig Lebertran verabreicht erhalten. Eine damals übliche Massnahme gegen Unterernährung und gegen Kinderkrankheiten.
Nach dem Putsch vom 25. Februar 1948, als die Kommunisten in der Tschechoslowakei die Macht übernahmen, war es um die berufliche Karriere des Vaters im Ministerium geschehen. Als Liberaler wurde er rausgeschmissen und ins Gefängnis gesteckt. Mutter Maria erkrankte überdies an Kinderlähmung, die sie fortan Zeit ihres Lebens behindern sollte. Vater wurde nach einigen Monaten aus der Haft entlassen. Von da an habe er bei der Post «Pakete rumschieben» müssen. Nach dem Tod des russischen Herrschers Josef Stalin habe sich die Situation etwas entspannt. Vater habe eine Stelle als Direktor der Telekommunikationsbehörde von Mittelböhmen bekommen. Aber nicht für lange. Nachdem der einstige Stalinist Antonin Novotný im November 1957 Präsident wurde, war es um die leitende Funktion des Vaters geschehen.
Tomas Masarik erzählt dennoch von einer behüteten Kindheit. Er schloss die Schulzeit mit der Matura ab. Getreu der Familientradition absolvierte er hinterher eine Lehre als Zimmermann, «um so bessere Voraussetzungen für ein Studium der Architektur zu haben», wie er sagt.
Eine schwere Entscheidung
So gerüstet, schrieb sich Tomas Masarik an der technischen Universität Prag ein. Er schloss das Studium als Architekt und Städteplaner mit Bestnoten ab. Nach dem Studium musste Masarik zum Militär. Es ist schwer vorstellbar, wie ein Freigeist wie Masarik einer ist, bei seiner militärischen Grundausbildung unter kommunistischer Führung durch den Dreck robbte und sich über die Kampfbahn mühte. In Anlehnung an den «Braven Soldat Schwejk», der sich mit List und feinem Witz als Soldat im Ersten Weltkrieg in der österreichisch-ungarischen Armee durchs Leben schlug, sagt Masarik: «Ich neigte, wie meine Mutter, stets etwas zu Schwejkereien.» Dennoch wurde er zum Bataillons-Kommandant bei den Genietruppen ausgebildet.»
Nach seiner Dienstzeit fand Masarik eine Anstellung beim städtischen Planungsamt in Prag, in der Abteilung Stadtentwicklung.
Doch dann machte der Prager Frühling allen Plänen ein Ende. Tagen der Hoffnung auf mehr Freiheit folgte am 21. August 1968 die brutale Niederschlagung durch Truppen des Warschauer Paktes. Panzer rollten durch Prag. Menschen starben. Tomas Masarik entschied sich für die Freiheit. Schweren Herzens liess er seine Eltern in Prag zurück. «Bis zum Mauerfall 1989 war es mir nicht möglich, meine Eltern zu besuchen oder sie am Sterbebett zu verabschieden. Es waren die schwierigsten Jahre meines Lebens. Ich wäre bei einer Rückkehr im Gefängnis gelandet.»
Im Oktober 1968 bestieg er ein Flugzeug nach Zürich. Er war im Besitz eines Ausreisevisums, weil er schon vorher mit Kollegen eine Reise durch einige Nachbarländer geplant hatte. Masarik erinnert sich: «Ich landete an einem Montag in Zürich-Kloten. Am Dienstag war ich bei der Fremdenpolizei. Und am Mittwoch auf dem Arbeitsamt. Am Donnerstag habe ich als Fensterputzer angefangen zu arbeiten. Und bis heute habe ich nicht aufgehört zu arbeiten», sagt der bald 83-Jährige. Gewohnt hat er in jener Zeit in Zürich in einer Jugendherberge. Fensterputzer sei ein «Superjob» gewesen. «Ich habe mehr verdient als nachher als Architekt. Weil die Jugendherberge am Wochenende tagsüber geschlossen war, ging Masarik jeweils in die Bibliothek der ETH, um Deutsch zu lernen.
Masarik startet neue Karriere
Schon am 13. November 1968 erhielt der 26-jährige Flüchtling eine Anstellung beim renommierten Architekturbüro von Hans von Meyenburg (1915 – 1995), der sich einen Namen für Kirchen, Spital-, Heim- und Schulbauten gemacht hat. Nur ein Jahr später heuerte Masarik als Planer beim Architekturbüro «Marti+Kast» an, das einige bedeutende Orts- und Siedlungsplanungen realisiert hat. Weil ihm in der Schweiz die Erfahrung mit dem hiesigen Bau- und Planungsrecht fehlte, schrieb sich Masarik 1973 an der ETH in Zürich für ein Studium für Orts-, Regional- und Landesplanung ein, das er 1976 mit dem Eidgenössischen Diplom abschloss. Dabei konnte er von einem Stipendium profitieren. Mit dem Diplom in der Tasche erhielt Masarik einen ersten Auftrag, nämlich für die Regionalplanung Wiggertal in Zofingen.
Mellingen lernte er im Rahmen seiner Tätigkeit bei «Marti+Kast» kennen, der den Auftrag hatte, 1976 einen Ort- und Richtplan für das Quartier «Kleine Kreuzzelg» zu erstellen. In Mellingen blieb Masarik hängen. Hier begann er als selbständiger Architekt und Planer zu arbeiten. An der Bruggerstrasse 32 erwarb er eine Altstadtliegenschaft, die er nach eigenen Plänen und mit eigenen Händen für seine schnell wachsende Familie umbaute. 1970 heiratete er seine erste Frau, die leider früh verstarb. Mit ihr hat Masarik fünf Kinder, Peter, Susanne, Thomas, Stefan und Lukas.
Zwei Söhne sind mit im Geschäft
Zwei seiner Söhne sind in Masariks Unternehmungen tätig. Thomas leitet die Mellbau AG, sie plant und baut. Stefan leitet die Arkadia AG, welche die Liegenschaftsverwaltung, Verkauf und das Rechnungswesen betreut. Tomas Masarik ist keiner, der seine Erfolge an die grosse Glocke hängt.
Beinahe entschuldigend räumt er ein, dass er «theoretisch» noch immer der Chef im Hause sei. Hört man ihm zu, könnte man meinen, er sei ein armer Schlucker. Dabei dürfte er einer der besten Steuerzahler in Mellingen sein. Masarik winkt ab: «Ich fahre nur einen kleinen Skoda und habe das Geld, das ich verdient habe, stets in Kuhwiesen investiert. Sozusagen als Reserve für spätere Wohnüberbauungen. Dabei legt er Wert darauf zu erwähnen, dass er stets auf die Unterstützung der lokalen Banken, namentlich der Hypothekarbank Lenzburg und der Neuen Aargauer Bank, habe zählen können. Zudem habe er immer wieder Konsortien mit Handwerkern gebildet, um anspruchsvolle Bauprojekte realisieren zu können. «Alleine geht das sonst nicht. Es ist stets Teamwork.»
Nach der Wende 1989, als der Eiserne Vorhang gefallen war, kehrte Tomas Masarik nach Prag zurück und erwarb einige heruntergekommene Liegenschaften mitten in Prag, die heute in neuem Glanz dastehen.
«Arbeit ist die beste Integration»
Wenn er heute zurückblickt, so sagt Masarik mit der Erfahrung eines langen Arbeitslebens: «Arbeit ist die beste Integration. Auch die Kinder haben sehr geholfen.» Dabei ist er besonders stolz, dass er allen seinen Kindern das Skifahren beigebracht hat. Nach dem Tod seiner ersten Ehefrau, ist er seit 1995 mit Katharina verheiratet, die einen Sohn mit in die Ehe gebracht habe.
Der Mellinger «Lokalpatriot»
Die Zeit als selbständiger Unternehmer sei ein steter Kampf gewesen, sagt Masarik. «Entweder hatte wir zu viel oder zu wenig zu tun. Aber normal war es nie.» Dabei ist er stolz darauf, nie einen Mitarbeiter entlassen zu haben.
Masarik ist seit 40 Jahren Schweizer Bürger. «Ein Mellinger Lokalpatriot». Seit vielen Jahren Mitglied der Mitte-Partei. Er hat sich über die Jahre in zahlreichen Kommissionen eingebracht. «Denn», so Masarik, «Wissen ist das wahre Vermögen!»
Beat Gomes











