Drei Frauen auf allen Ebenen – eine Spurensuche
10.08.2021 BirmenstorfDie Nationalrätin, die Grossrätin und die Frau Gemeindeammann reden über Politik und wie sie auch «im Kleinen» viel bewirkt
Sie reden auf allen politischen Ebenen mit – beim Bund, beim Kanton und in der Gemeinde. Gemeinsam ist diesen drei Frauen ihr ...
Die Nationalrätin, die Grossrätin und die Frau Gemeindeammann reden über Politik und wie sie auch «im Kleinen» viel bewirkt
Sie reden auf allen politischen Ebenen mit – beim Bund, beim Kanton und in der Gemeinde. Gemeinsam ist diesen drei Frauen ihr Gestaltungswille.
Gross ist die Gemeinde nicht. Und doch kann das 3000-Seelen-Dorf Birmenstorf mit einer besonderen Konstellation aufwarten. Im Weinbaudorf, an der Peripherie zu Baden, politisieren drei Frauen. Sie tun dies auf allen politischen Ebenen – beim Bund, im Kanton, in der Gemeinde. Nachhaltig, hartnäckig und erfolgreich.
Am längsten dabei ist Nationalrätin Ruth Humbel. Sie wurde 1981 – gerade mal zehn Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechtes – in den Aargauer Grossen Rat gewählt, 2003 dann in den Nationalrat. Die Grossrätin Edith Saner wurde 1998 in den Gemeinderat gewählt, wurde Gemeindeammann und ist seit 2014 auch Grossrätin. 2020 war sie als Grossratspräsidentin zudem höchste Aargauerin. Marianne Stänz ist nach dem Rücktritt von Edith Saner seit 2018 Gemeindeammann in Birmenstorf. Sie stellt sich bei den Gesamterneuerungswahlen im Herbst für eine weitere Legislatur zur Verfügung. Alle drei gehören der Partei «die Mitte», der früheren CVP, an.
Wie kommt Birmenstorf zu drei erfolgreichen Politikerinnen auf allen politischen Ebenen? Spielen Vorbildfunktionen, Gerechtigkeitssinn oder Gestaltungswille eine Rolle? Fördert Birmenstorf Frauen mehr als andere Gemeinden? – Oder ist es Zufall? Der «Reussbote» begibt sich auf Spurensuche. Er fragt nach und hört zu.
◆ Birmenstorf ist auf jeder politischen Ebene mit einer Politikerin vertreten. Auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene. Wie kommt das?
Marianne Stänz: Ob wir diese Frage beantworten können ...?
◆ Gibt es Vorbilder? Was könnte der Grund sein, die Motivation?
Ruth Humbel: Die Motivation? – Vor 40 Jahren waren in der CVP fast nur Männer, Martin Zehnder, Leo Imboden. 1981 wurde ich überraschend in den Grossrat gewählt – sicher wegen des Sports.
◆ Sie waren in Birmenstorf die Erste, machen heute seit 40 Jahren Politik, zunächst auf kantonaler, seit fast 20 Jahren auch auf Bundesebene. Politik interessierte Sie schon als junge Frau?
Humbel: Ich habe Rechts- und Politikwissenschaften studiert und eine Seminararbeit über die Neue Verfassung des Kanton Aargau von 1980 geschrieben. Ausserdem war mein Onkel, Beda Humbel, Grossrat und später auch Nationalrat. Damals hatte ich aber vor allem den Sport im Kopf. Zufällig allerdings auch eine unglückliche Verletzung: Es war ungewiss, ob ich weiterhin Spitzensport betreiben kann.
◆ Sie waren als Orientierungsläuferin international überaus erfolgreich. Der Zeitpunkt stimmte dennoch?
Humbel: Ich dachte, einen Wahlkampf zu erleben, wäre spannend. Und mich interessierte die Aufgabe. In diesem Jahr – zehn Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts – wurde der Gleichstellungsartikel in die Bundesverfassung aufgenommen. Es gab ein neues Schulgesetz zur Koedukation im Aargau, Unterschiede beim Unterricht für Buben und Mädchen wurden abgeschafft. Eine meiner ersten politischen Aktionen war 1971 übrigens eine Demonstration rund um das Bezirksschulhaus: Mädchen sollten mehr Sport machen dürfen.
◆ Sie waren als Sportlerin sehr bekannt und haben es dann auf Anhieb in den Grossrat geschafft.
Humbel: Ich wurde damals von Hans Peterhans, Stadtammann in Mellingen, für die Grossratsliste angefragt und dann auf den drittletzten Listenplatz gesetzt.
Stänz: Die Männer waren bestimmt über deine Kandidatur überrascht...
Humbel: ...schlimm für viele war meine Wahl. Wir hatten im Bezirk Baden zwei Listen, die Liste Reusstal-Rohrdorferberg und die Liste Limmattal. Im Limmattal holte ich am meisten Stimmen, diese Stimmen besiegelten auch meine Wahl. Nicht gewählt wurden dagegen bewährte Männer, auch Gemeindeammänner. Die Enttäuschung war gross. Im Limmattal hingegen wurde ich am Wahlabend fast wie eine Prinzessin gefeiert – ich war gerade mal 24 Jahre alt.
◆ Und Sie wurden Grossrätin und damit auch zu einem Vorbild?
Humbel: Der Grossrat hatte damals noch 200 Mitglieder und die CVP-Fraktion 50. Vier CVP-Frauen wurden gewählt und jede durfte in eine Kommission. Das war 1981 sogar eine Art Quote – gar nicht so schlecht. Ich kam in die Gesundheitskommission.
◆ War die Gesundheitskommission für Sie als Juristin Zufall?
Humbel: Heidi Ledergerber war bereits in der Bildungskommission. Mich reizte das Gesundheitswesen: Der Aargau hatte damals ein ziemlich fortschrittliches Gesundheitsgesetz.
◆ Ruth Humbel war die Erste. Aber auch Sie, Frau Saner, engagieren sich nun seit über zwanzig Jahren in der Politik. Sie haben als Frau Gemeindeammann in Birmenstorf zahlreiche Projekte erfolgreich umgesetzt. Wie kamen Sie zu Ihrem Engagement?
Edith Saner: Wir sind 1987 nach Birmenstorf gezogen. Mein Einstieg in die öffentliche Arbeit in Birmenstorf geschah über die Spitex. Ich engagierte mich im Vorstand der Spitex und wurde bald deren Präsidentin. So kam ich auch erstmals in Kontakt mit dem Gemeinderat. Ich stellte Verbesserungspotenzial fest: Sei es in Bezug auf die Spitex oder auch beim Projekt Kunst am Bau. Ich realisierte damals, wenn ich etwas bewegen will, muss ich mich engagieren. Die Faust im Sack genügt nicht. Inzwischen kannte man mich im Dorf und Ruth Humbel kam auf mich zu ...
Humbel: ... in der Partei suchten wir neue Leute. Ich hatte den Auftrag erhalten, bei Saners anzufragen. Herr Saner ging ans Telefon.
Saner: Ja, du warst überrrascht. Du sagtest ihm, Du wolltest mit mir reden, es gehe um den Gemeinderat. Mein Mann gab das Telefon gleich weiter.
◆ Und Sie wurden vom Dorf gewählt?
Saner: Bei den Gesamterneuerungswahlen 1997. 20 Jahre lang war ich im Gemeinderat, 16 davon als Ammann.
Humbel: Du warst zunächst parteilos.
Saner: Ich bin erst in die damalige CVP eingetreten, als ich schon zwei Jahre lang Gemeindeammann war.
◆ Warum nicht mehr parteilos?
Saner: Ich kann mich gut daran erinnern, dass wir mit vielen Kolleginnen und Kollegen, die sich für Politik interessierten, abends im Restaurant Adler sassen. Hatten wir ein Glas zuviel getrunken? Jedenfalls meinte jemand, eigentlich hätte ich schon Lust, der CVP beizutreten. Daraufhin sagte eine Kollegin, dann komme ich auch. Wir traten zu zehnt der Partei bei, alle gleichzeitig. An diese Dynamik kann ich mich gut erinnern.
◆ Sie wählten die richtige Partei?
Saner: Ich hatte mir das durchaus gut überlegt. Die Werte waren die richtigen, die CVP war eine Mitte-Partei und ich eine klassische Mitte-Frau. Der heutige Name ist für mich stimmig: «Die Mitte», eine Partei, die weder Schwarz noch Weiss kennt. Man will abwägen ...
Stänz: ... genau.
Saner: Es ist eine riesige Herausforderung, den Konsens zu finden. Das gefällt mir an dieser Partei.
◆ Dürfen Sie ausscheren, Parteiparolen ignorieren?
Humbel: In der Fraktion debattieren wir intensiv bevor Entscheide gefällt werden. Abweichende Meinungen sind indes möglich. Gerade in den Sozialversicherungen muss immer gefragt werden: Was ist der Gesellschaft zumutbar, den einzelnen Menschen und der Wirtschaft. Das ist nicht immer einfach...
◆ Das sind Erfahrungen aus der Legislative; aus dem Nationalrat, dem Grossrat. Frau Stänz, Sie sind seit vier Jahren Gemeindeammann in Bir menstorf. Wie erleben Sie Politik auf Gemeindeebene, in der Exekutive?
Stänz: Wir sind im Gemeinderat zu fünft und wir müssen für 3000 Menschen, für die Einwohnerinnen und Einwohner von Birmenstorf, Lösungen finden: Wir diskutieren Möglichkeiten, wägen Vor- und Nachteile ab und bilden uns eine Meinung. Für mich geht es immer darum, die beste Lösung für die ganze Gemeinde zu finden. Das müssen wir aushandeln. Nicht immer sind alle einverstanden, die Lösung ist nicht für alle perfekt.
◆ Sie treten bei den Gesamterneuerungswahlen für eine weitere Amtszeit an, Sie diskutieren mit Leidenschaft, verhandeln gerne?
Stänz: Ich habe im Gemeinderat realisiert, dass meine eigene Meinung gefragt ist: Aufgrund meiner Abwägungen beziehe ich Position, bin für A oder B. Daraufhin folgt eine Auslegeordnung. Zuletzt wird abgestimmt.
◆ Auch bei Ihnen war es die CVP, die heutige Partei «die Mitte»?
Stänz: Mir gefällt, dass in dieser Partei nicht übermässig indoktriniert wird. Man darf von einer Parteiparole abweichen. Ich nehme an, dass auch die Legislative diesbezüglich gewisse Freiheiten zulässt? Etwa wenn ein Kanton in einer anderen Ausgangslage ist?
Solche Freiheiten erlebe ich jedenfalls als Qualität. Eine Parteipolitik gegen meinen Willen mittragen? Das könnte ich nicht. Ich muss dagegen stimmen dürfen. In «die Mitte» ist Abwägen, einen eigenen Schluss ziehen möglich.
Humbel: Man versucht zwar, sich bei Kernthemen zusammen zu raufen. Aber tatsächlich habe ich als Aargauerin in gewissen Fragen andere Vorstellungen als eine Bündnerin oder ein Walliser. Es braucht ein gewisses Mass an Freiheit. Auf der anderen Seite steckt etwa in Themen wie «Ehe für alle» viel persönliche Überzeugung. Letztlich geht es aber um ein Gesetz und ich bin verantwortlich, dass eine gesetzliche Grundlage geschaffen wird, weil sich die Gesellschaft ändert. Die eigene weltanschauliche Position ist nicht sakrosankt. Als Gesetzgeber müssen wir verschiedene Interessen berücksichtigen.
◆ Die CVP lässt Raum für eigenständige Politik. Und in Birmenstorf haben Frauen Lust, Politik zu machen?
Stänz: Das ist die Frage. Ich würde das nicht generalisieren. Ich bin zurzeit mit vier Männern im Gemeinderat – eigentlich schade. In der vorherigen Legislatur, mit Edith Saner, waren wir drei Frauen und zwei Männer. Das gefiel mir sehr gut (lacht)...
Saner: Ja, das ist uns gelungen.
◆ Fühlen Sie sich im Gemeinderat einsam, Frau Stänz?
Stänz: Ein bisschen isoliert fühle ich mich als einzige Frau schon. Hinzu kommt, dass ich als Einzige auch hier aufgewachsen bin. Manchmal muss ich erklären, was im Dorf möglich ist, wie hier Mehrheiten gewonnen werden. Als einzige Frau im Gemeinderat spreche ich dennoch nicht für alle Frauen: Ich bin nicht Mutter, bin mit einem Studienabschluss privilegiert. Ich wünschte mir allerdings mehr Frauen, auch im Regionalplanungsverband Baden Regio. Dort sind wir im Moment von 24 Gemeinden nur vier Frauen.
Saner: Das war zu meiner Zeit anders.
Stänz: Vielleicht tut sich etwas? Bei den Gesamterneuerungswahlen kandidieren einige Frauen für das Amt des Gemeindeammanns, etwa in Remetschwil, Mägenwil, Mellingen...
◆ Woher kommt diese Lust am Mitgestalten, etwas zu bewegen?
Stänz: Ich habe Betriebswirtschaft studiert. Die Gemeinde erlebe ich auch als KMU – für mich ein schöner Ansatz. Mich motiviert das Entwickeln, etwa bei der Infrastruktur oder im Bereich Personal. In Birmenstorf steht auf Kaderstufe aktuell ein Generationenwechsel an. Das eröffnet Möglichkeiten, ich kann Ideen einbringen, muss meine Kollegen überzeugen. In der Regel startet dann ein Projekt. Als Gemeindeammann schätze ich ausserdem die vertiefte Zusammenarbeit mit anderen Gemeinden, etwa in der Regionalplanung, beim Projekt Modellstadt. Wir diskutieren, wie wir bessere Lösungen für die Region erhalten, wie wir sie stärken können.
◆ Wo sind persönliche Grenzen?
Stänz: Mein Vater war Gemeindeammann. Bei ihm habe ich erlebt, wie er Widerstand sehr persönlich genommen hat. Nach vier Jahren hat er aufgehört, weil es zu viel wurde.
◆ Das hat Sie beeinflusst?
Stänz: Schon damals hatte ich mir vorgenommen, wenn ich jemals eine solche Funktion ausüben sollte, werde ich politischen Gegenwind nicht persönlich nehmen. Tatsächlich ist das für mich heute kein Problem. Eine andere Meinung vertreten ist zulässig, weil wir uns in einem politischen Prozess befinden. Am Ende des Tages wird abgestimmt und dieses Ergebnis gilt es zu akzeptieren.
◆ Frau Saner, geht es Ihnen ähnlich?
Saner: Mir gefällt es, Verantwortung zu übernehmen und für meine Meinung einzustehen. Mir gefällt auch die Vernetzungsarbeit. Das war schon im Gemeinderat in Birmenstorf so und das schätze ich aktuell im Grossen Rat. Etwa bei der überparteilichen Arbeit in den Kommissionen: Andere Meinungen einholen, Lösungen ausarbeiten und dann gemeinsam tragen. Das ist spannend aber auch anspruchsvoll.
◆ Was ist für die Grossrätin anders als für die Frau Gemeindeammann?
Saner: Zwar lernt man in beiden Gremien viele verschiedene Menschen kennen, setzt sich mit den unterschiedlichsten Themen auseinander – je nach Wunsch, mal mehr, mal weniger. Als Gemeinderätin und als Gemeindeammann fühlte ich mich allerdings immer mittendrin, voll am Puls des Lebens. Diese Nähe zu den Menschen, in Verbindung mit einem Thema, hat mir auf Gemeindebene sehr gut gefallen. Im Grossen Rat ist die Distanz etwas grösser.
◆ Kommen Sie an Grenzen?
Saner: Wenn sich Leute schwierig und nicht kompromissbereit verhalten. Ich setze mich dann allerdings mit ihnen zusammen – manchmal bei einem Bier oder einem Kaffee. Ich zeige, was möglich sein könnte und wo Grenzen sind. Es gehört zur Arbeit in einem öffentlichen Amt, nachzufragen und, wenn nötig, dran zu bleiben. Man muss auf die Menschen zugehen und an anderen Meinungen interessiert sein. Ich muss wissen, weshalb zum Beispiel jemand provoziert. Dabei ergeben sich oft sehr gute Gespräche.
◆ Im Dorf?
Saner: Auf kommunaler Ebene auf jeden Fall. Dies gilt aber auch für den Grossen Rat.
◆ Was sind die Unterschiede zwischen der Arbeit in der Funktion als Gemeinderatsmitglied und als Gemeindeammann?
Saner: Als Gemeindeammann war ich gefordert, ein Gremium von Menschen zu führen, die von der Stimmbevölkerung gewählt wurden. Dies war nicht nur spannend und lehrreich, sondern auch ab und zu eine grosse Herausforderung.
Stänz: Der Gemeinderat ist eine Zwangsgemeinschaft. Zum Glück müssen wir nicht einer Meinung sein. Sonst wären wir sicher nicht das Abbild der Gemeinde. Es macht indessen Sinn, im Gemeinderat sein Ego hintenanzustellen. Vor allem, wenn man bei Mehrheitsentscheiden unterliegt. Diskretion ist gefragt, nichts darf weiter erzählt werden. So lauten die Spielregeln in der Exekutive.
◆ Frau Humbel, als Nationalrätin sind Sie besonders exponiert. Ihre Aussagen werden schweizweit gehört und beachtet. Gelingt es Ihnen – auch nach Anfeindungen – immer wieder mit geradem Rücken hinzustehen?
Humbel: Man braucht ein dickes Fell. Einer der harmlosesten Vorwürfe während der Corona-Krise lautete nach einer meiner Aussagen, ich sei zu weit weg von den Menschen, verstehe etwa Impf-Skeptiker nicht…Allzu sensibel darf ich als Politikerin nicht sein.
◆ Sie haben sich über Jahrzehnte hinweg grosses Wissen angeeignet.
Humbel: Im Gegensatz zu Gemeinderatsmitgliedern, die Allrounder sind und in alle Bereiche hineinsehen, muss man sich in einer Legislative spezialisieren.
◆ Sie sind eine profilierte Gesundheitspolitikerin.
Humbel: Meine Schwerpunktthemen sind das Gesundheitswesen und die Sozialpolitik. Es ist mir ein Anliegen, in der AHV und in der Berufsvorsorge einen Schritt weiter zu kommen, Lösungen zu finden, die nachhaltig sind. Wir befinden uns bei diesen Themen zurzeit in einer prekären Situation. Bei der AHV und der Zweiten Säule hat man in diesem Jahrhundert noch keine Reform durchgebracht. Bis 1995 waren es hingegen zehn, alle fünf Jahre eine... Diese Entwicklung macht mir zu schaffen.
◆ Was können Sie tun?
Humbel: Sich fragen, wie kann ich überzeugen? Wie gelingt bessere Aufklärung? Es ist allerdings eine grosse Herausforderung, komplexe Fragen in der direkten Demokratie leicht verständlich zu vermitteln. Alle Parteien sind in einer grossen Verantwortung. Parteipolitik darf die Sachpolitik nicht übersteuern – auf keiner politischen Ebene.
◆ Sie alle bleiben der Politik treu und somit auch Vorbilder. Birmenstorf dürfte noch eine Weile auf allen politischen Ebenen mit Frauen vertreten sein. Das mag Zufall sein. Aber auch nachahmenswert. – Im Aargau stehen im Herbst auf Gemeindeebene Gesamterneuerungswahlen an. Warum soll man sich engagieren?
Stänz: Weil diese Arbeit unglaublich lehrreich ist. Ich konnte hinter sehr viele Kulissen schauen: Woher kommt zum Beispiel das Wasser. Ich habe Menschen getroffen, denen ich nicht begegnet wäre. An Seniorengeburtstagen, bei Neuzuzügeranlässen, Einbürgerungsgesprächen. Ich tausche mich mit dem Förster aus … Die Arbeit im Gemeinderat ist extrem spannend.
◆ Aber die Geschäfte sind komplex, Dossiersicherheit müssen sich alle erarbeiten?
Stänz: Ohnehin, die Ausbildung mag ein Vorteil sein. Das Amt ist arbeitsintensiv. Manchmal muss man als Gemeinderat mindestens einen Tag in der Woche aufwenden. Es gibt Phasen, da hat man jeden Abend eine Sitzung. Als Gemeindeammann auch mehr.
Saner: Ich wünsche mir, dass wieder vermehrt die Verantwortung auf Gemeindeebene wahrgenommen wird, mitzureden und mitzugestalten. Bereits «im Kleinen» kann viel bewirkt werden. Das habe ich selber als junge Frau erlebt, als ich mich für die Spitex aber auch für die Kultur im Dorf zu interessieren begann.
Humbel: Neben Bürgerrechten gibt es Bürgerpflichten. Freiheit bedingt Verantwortung, auch Verantwortung für das Gemeinwohl. Wir sind das einzige Land der Welt, das sich als Genossenschaft versteht, als Eidgenossenschaft. Eine Genossenschaft ist eine Organisation zur Selbsthilfe. Dem sollten wir Sinn und Inhalt geben.
Stänz: Das muss auch vorgelebt werden, in der Familie. Ich hatte solche Vorbilder, in verschiedenen Bereichen. Vielleicht ist man aber einfach die erste Person in der Familie?
Warum Birmenstorf? Das Gespräch zeigt, wie im Dorf viele kleine Bausteine zur besonderen Konstellation – eine Politikerin auf Bundesebene, im Kanton und an der Spitze des Gemeinderates – beitragen. Alle drei Politikerinnen haben und sind Vorbilder. Sie wollen gestalten und etwas bewegen, vor allem in der Sache. Sie reden von Verantwortung, hören zu, auch Andersdenkenden, und sind konsensorientiert. – Vielleicht kann das eine mögliche Antwort sein.
Heidi Hess
Die Gesamterneuerungswahlen finden im Aargau auf Gemeindeebene am 26. September statt. Interessierte melden sich bis am 13. August bei den jeweiligen Gemeindekanzleien.
Marianne Stänz
Marianne Stänz (*1966) kommt aus Birmenstorf und lebt auch in Birmenstorf. Sie hat Betriebswirtschaft studiert und arbeitet heute als Kanzleimanagerin bei Voser Rechtsanwälte in Baden. Im September 2013 wurde sie in den Birmenstorfer Gemeinderat gewählt. 2018 folgte die Politikerin als Frau Gemeindeammann auf Edith Saner, die ihren Rücktritt aus der Gemeindeexekutive gegeben hatte. Stänz gehört zudem dem Parteivorstand «die Mitte» Birmenstorf an. Bereits der Vater von Marianne Stänz war in den 80er-Jahren Gemeindeammann in Birmenstorf. (red.)
Edith Saner
Edith Saner (*1960) lebt seit 1987 in Birmenstorf. Bis Ende 2020 arbeitete sie 33 Jahre lang als Leiterin Bildung und Beratung am Kantonsspital Baden. Die Spitex weckte ihr politisches Interesse: Sie kam 1998 in den Gemeinderat Birmenstorf, von 2002 bis 2018 war sie Gemeindeammann. Seit 2014 ist die Mitte-Politikerin Grossrätin, 2020 war sie Grossratspräsidentin. Seit 2014 ist Saner Verwaltungsratspräsidentin des Alterszentrums am Buechberg in Fislisbach und seit 2017 Präsidentin des Branchenverbandes Aargauische Spitäler, Kliniken und Pflegeinstitutionen (vaka). (red.)
Ruth Humbel
Ruth Humbel (*1957) kommt aus Birmenstorf, wo sie auch lebt. Sie hat Rechts- und Politikwissenschaften studiert. Von 1981 bis 2003 sass sie für die CVP im Grossen Rat des Kantons Aargau und wurde bei den Parlamentswahlen 2003 in den Nationalrat gewählt. Im Nationalrat ist die Gesundheitspolitikerin Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, der Staatspolitischen Kommission und der Begnadigungskommission. Sie war Spitzenläuferin im Orientierungslauf, von 1975 bis 1987 international erfolgreiche Sportlerin im Schweizer Nationalkader. (red.)




