Ein Dorf lebt – mit zahlreichen Gesichtern

Fr, 15. Okt. 2021

Nicht weniger als 72 Nationalitäten leben in Fislisbach Seite an Seite mit ihren Schweizer Nachbarn. Der Ausländeranteil in der Gemeinde liegt bei rund einem Viertel. Was bedeutet das für ein Dorf mit 5700 Einwohnern und wie gelingt Integration?

Die Liste der Herkunftsländer, aus denen die Einwohner von Fislisbach stammen, liest sich fast wie die Anwesenheitsliste der Uno-Vollversammlung: Von Afghanistan bis Angola, von Japan bis Costa Rica, von Kanada bis Russland ist alles dabei. Und die Europäische Union ist selbstverständlich ebenfalls zahlreich vertreten. Italiener, Deutsche und Kosovaren stellen dabei die drei grössten Gruppen. Etwas mehr als 74 Prozent der Einwohner haben einen Schweizer Pass. Wie viele davon Doppelbürger sind oder einen Migrationshintergrund haben, weiss man im Gemeindehaus hingegen nicht: «Wenn jemand seine Doppelbürgerschaft aufgibt, meldet er uns das nicht», erklärt Gemeindeammann Peter Huber, der in Fislisbach auch für die Einbürgerungsgespräche zuständig ist. Wer ihm gegenübersitzt, hat den staatsbürgerlichen Test bereits hinter sich. Und der sei gar nicht so einfach, sagt Huber: «Für viele Schweizer wäre dieser ebenfalls anspruchsvoll». Die angehenden Neubürger sind jedoch äusserst motiviert: «Es gibt viele mit Maximalpunktzahl», berichtet Huber.
Auch im Behördenalltag mache sich die Sprachvielfalt bemerkbar, erklärt Gemeinderätin Simone Bertschi. Dies sei aber meist kein Problem, da viele ihren eigenen deutschsprachigen Übersetzer mitbrächten: «Viele sind organisiert und kümmern sich selbst darum, dass jemand zum Beispiel aus der Familie, der Verwandtschaft oder Bekanntschaft mitkommt.» Für den täglichen Verkehr habe man ausserdem einige Mitarbeiter im Gemeindehaus, die mehrere Sprachen beherrschen, ergänzt Peter Huber. Bei wichtigen Gesprächen, bei denen eine präzise und neutrale Übersetzung angezeigt sei – beispielsweise mit dem Sozialdienst oder dem Familiengericht – werde teilweise auch ein Dolmetscher hinzugezogen, erläutert Bertschi. Es gebe ausserdem sehr gute Integrationsangebote des Kantons und mehrsprachige Internetseiten wie beispielsweise «hallo-aargau.ch», auf denen sich Migranten jeweils informieren könnten.

Gemeinde stellt Infrastruktur
«Grundsätzlich ist das Asyl- und Integrationsthema übergeordnet, also Kantonsangelegenheit», erläutert der Gemeindeammann. Die Gemeinde leiste ihren Beitrag, in dem sie die Infrastruktur stelle und proportional zur Bevölkerung Asylsuchende aufnehme. Fislisbach betreibt derzeit ein Haus und einen Asylpavillon für vorläufig aufgenommene Flüchtinge und vorläufig aufgenommene Ausländer. Der Neubau des Pavillons 2019 hat die Gemeinde rund 540 000 Franken gekostet. Von den rund 24 Personen lebten derzeit elf in Unterkünften, andere wohnten selbstständig, erklärt Simone Bertschi. Die Betreuung der Bewohner übernimmt der Kanton: «Wir haben mit den Bewohnern eigentlich direkt nichts zu tun», sagt Huber. Integration auf kommunaler Ebene finde vor allem in der Schule und in den Vereinen statt, sind sich die beiden Gemeinderäte einig. Darüber hinaus gebe es – zumindest in Zeiten vor Corona – viele multikulturelle Veranstaltungen in der Region. Der letztjährige Veranstaltungskalender Rohrdorferberg-Reusstal liest sich denn auch entsprechend bunt und vielfältig: Von der Irish Night bis zum Café del Mundo mit Flamenco-Gitarre, vom Wienercafé bis zum «Techtelmechtel» mit osteuropäischer Musik, ist alles geboten.

Es fängt mit den Kleinsten an
Die Integration beginnt in Fislisbach aber schon im Kindergarten: «50 bis 55 Prozent der Kinder sind fremdsprachig», erklärt Schulleiterin Andrea Haslimeier. Bei mehreren Klassen mit insgesamt je 23 Kindern kann man erahnen, was das bedeutet. Wie gut die Kleinen Deutsch können, versuche man bereits vorab anhand eines Fragebogens abzufragen, erklärt Haslimeier. Die sogenannten «DaZ»-Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, würden dann auf die Klassen verteilt. Sechs «DaZ»-Lehrpersonen begleiten die Kindergarten-Kinder zwei Jahre lang intensiv. «Die Kindsgi-Alltagssprache lernen sie relativ schnell», so Haslimeier: Die Kleinsten würden am meisten im Zusammensein und durch gegenseitiges Abschauen lernen.
Die ersten beiden Primarschul-Klassen lang werden die fremdsprachigen Kinder weiterhin engmaschig betreut: fünf weitere Lehrpersonen stehen hierzu parat: «Der ‹DaZ›-Unterricht passiert in enger Abstimmung mit der Lehrperson, damit die Kinder in jeder Stunde Deutsch weiterlernen können», erklärt Maria Gschwend, ebenfalls Schulleiterin in Fislisbach. Ab der dritten Klasse hätten die Kinder je nach individuellem Bedarf noch ein weiteres Jahr Intensivunterricht zugut. Im Schnitt seien es dann noch ein bis zwei Kinder pro Klasse.
Besonders wichtig findet Gschwend die Einbindung der Eltern: «Wir legen grossen Wert darauf, dass die Eltern den MuKi-Kurs belegen». Gemeint sind die Sprach- und Integrationskurse für Mutter und Kind. Sie sollen den Eltern gleichzeitig helfen, das System in der Schweiz besser zu begreifen: «Wir wollen, dass die Schülerinnen und Schüler allein zur Schule gehen», gibt Gschwend ein Beispiel. Man müsse manchen Eltern erst erklären, dass der Schulweg hier nicht so gefährlich sei, wie im Herkunftsland.

Im Verein vereint
«Turnen ist ein guter Weg, sich im Dorf zu integrieren, wir sind offen für alle Leute», erklärt Tanja Lepri. Die Präsidentin des Sportverein Fislisbach ist gleichzeitig Mitglied der Schulpflege. Über Aushänge im Kindergarten erreicht sie auch Familien mit Migrationshintergrund. Vieles sei aber Mundzu-Mund-Propaganda: «Meistens gibt es Kinder, die sich schon aus der Schule kennen», erklärt sie. Weil die Gruppen aus verschiedenen Klassen zusammengewürfelt seien, klappe die Integration auch problemlos: «Meistens gibt es zwei bis drei mit der gleichen Nationalität, dann nimmt sich einer der Kinder an», erzählt Lepri: «Wir versuchen das als Leiter auch zu steuern, damit es keine Aussenseiter gibt». «Wünschenswert wäre, wenn sich die Eltern noch mehr zeigen», findet sie. Denn diese wollten sich eigentlich ebenfalls integrieren. Es gebe ausserdem manchmal andere Probleme, bei denen man sich gegenseitig helfen könne – wenn etwa Familien mit kleinen Kindern Kleider suchten.
Auch beim Fussballclub FC Fislisbach gibt es keinerlei Berührungsängste – im Gegenteil: Die 475 aktiven Spieler stammen aus 33 verschiedenen Nationen: «Wir hatten schon immer die Philosophie, dass wir alle Kinder aufnehmen», erklärt Markus Dort, Ehrenpräsident beim FCF. Und wenn es vereinzelt Probleme mit dem Vereinsbeitrag gebe, finde man immer eine Lösung. Die Kinder selbst seien unglaublich tolerant, erzählt der langjährige Trainer: «Da ist der Hansli genauso willkommen wie der Emir». Entscheidend sei im Team nicht, was für eine Nationalität man habe, sondern wie gut einer spiele: «Mannschaftssport ist grundsätzlich für die Integration von Kindern wichtig». Und wenn es doch einmal eine Beleidigung gebe, werde sofort das Training unterbrochen und gesagt: «Ich will das nicht hören!» Da sei man sehr streng, erklärt Dort.

Geben und Nehmen
Und was ist nun das Geheimnis guter Integration? «Beide Seiten müssen im positiven Sinne einen Beitrag leisten und auch wollen», findet Peter Huber: «Wir können nicht zwangsintegrieren». «Offen sein und mitmachen wollen», sei besonders wichtig, findet auch Simone Bertschi: «Es ist nicht nur eine Bringschuld, sondern auch eine Holschuld.»

Michael Lux

Ganzer Artikel ist nur für Abonnenten verfügbar.
Kategorie: 

Stellenangebote

Immobilienangebote

Kommende Events

Weitere Angebote

Trending

1

Erst mulmig, dann neugierig, schliesslich stolz

Von Zürich nach Nizza in einer Boeing 737 – Erfahrungsbericht aus dem Flugsimulator des ehemaligen Airline-Piloten Felix Staubli

Im Flugsimulator der Familie Staubli darf ich eine Stunde lang Pilotin sein. Die Lämpchen machen mir Sorgen und doch vergeht die Zeit im Flug.

Ein leicht mulmiges Gefühl beschleicht mich, als ich das Dachgeschoss der Familie Staubli in Wohlenschwil betrete. Dort fällt mein Blick auf ein Cockpit, einen wirklichkeitsgetreuen Nachbau einer Boe…